Potenzialanalyse

Standardisierte Personalauswahl schafft messbare Wettbewerbsvorteile

Viele Unternehmen, vor allem KMU, setzen bei der Selektion und Entwicklung ihrer Mitarbeitenden noch immer vor allem auf unstrukturierte Gespräche. Sie lassen ihr Bauchgefühl entscheiden. Ein Fehler, glaubt Martin Kleinmann, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Zürich. Wer sich allein auf gesunden Menschenverstand verlässt, steht hinter der Konkurrenz zurück.

Herr Kleinmann, wann sollte eine Potenzialanalyse durchgeführt werden und für wen lohnt sich der Einsatz?

Professor Martin Kleinmann: Potenzialanalysen lohnen sich für grosse Unternehmen und für KMU. Sie ermöglichen gezielte Personalentwicklung und sind auch bei der Nachfolgeplanung unterlässlich. Potenzialanalysen können Mitarbeiter mittelfristig stärker an die Organisation binden, denn sie zeigen ihnen Entwicklungswege in der Organisation auf. Wenn Unternehmen also keine Analysen durchführen, können Mitarbeiter schnell vermuten, dass es in dieser Firma keine Entwicklungsmöglichkeiten für sie gibt, und schauen sich vielleicht am Arbeitsmarkt um. Wird ihnen aber attestiert, dass sie Potenzial haben, fühlen sie sich stärker gebunden.

Für welche Zielgruppe machen Potenzialanalysen Sinn – bereits für Lehrlinge oder erst auf Führungsebene?

Dies ist eine Frage von Aufwand und Nutzen. Natürlich macht es bereits auf Lehrlingsebene Sinn, Personen mit Potenzial zu identifizieren, um diesen eine Perspektive aufzeigen zu können. Der Aufwand für Potenzialanalyseverfahren wird für diese Zielgruppe aber wahrscheinlich geringer ausfallen als für Führungsnachwuchskräfte.

Welche Instrumente und Verfahren der 
Potenzialanalyse gibt es?

Im Prinzip gibt es drei Arten, Potenzial zu messen: Eine ist, dass man Konstrukte wie die Intelligenz untersucht und annimmt, dass sich jemand mit hoher Intelligenz auch künftig intelligent verhalten wird und damit viele Aufgaben lösen kann. Die zweite Möglichkeit sind biografische Verfahren: Man schaut also anhand von Lebensläufen oder über strukturierte Interviews in die Vergangenheit und versucht, daraus auf die Zukunft zu schliessen. Die Annahme ist, dass Personen, die bereits grosse Entwicklungsschritte gemacht haben, über ein höheres Mass an Potenzial verfügen und auch künftig solche Schritte machen. Als dritte Variante kann man das konkrete Verhalten analysieren, beispielsweise indem man Kandidaten Aufgaben gibt, die der zukünftigen Position entsprechen. Wenn jemand diese dann in einer Arbeitssimulation bewältigen kann, nimmt man an, dass er Potenzial hätte, die Stelle auch auszufüllen. So funktionieren Assessment Center.

Inwieweit hängt Potenzial von der Intelligenz ab?

Intelligenz ist ein sehr guter Prädiktor für Potenzial. Sie beschreibt einerseits die Ausgangslage, in der jemand fähig ist, Probleme erfolgreich zu bearbeiten. Sie ist andererseits ein guter Prädiktor für die Lernfähigkeit einer Person, also inwieweit künftige veränderte Aufgaben bewältigt werden können. Allerdings haben Intelligenztests den Nachteil, dass sie oft wenig Akzeptanz bei den Bewerbern finden.

Wieso?

Den Leuten leuchtet oft nicht ein, was Aufgaben wie Zahlenreihen vervollständigen mit dem Berufserfolg zu tun haben. Dort wird die Kombinationsfähigkeit geprüft und Schlüsse gezogen, wie gut die Bewerber auch später im Beruf kombinieren können. Deshalb gibt es seit einiger Zeit Intelligenztests, die in Wirtschaftsszenarien eingebunden sind: Das heisst, der Kandidat bekommt zum Beispiel Tabellen mit wirtschaftlichem Hintergrund und muss dazu Fragen mit Hilfe von Logik beantworten. Solche Tests finden mehr Akzeptanz, auch bei den Personalverantwortlichen, obwohl ihre Vorhersagegenauigkeit nicht besser sein muss.

Reicht es nicht, sich bei Personalentscheidungen auf seine Intuition zu verlassen?

Das kann man machen. Wenn Wettbewerber es auch so machen, hat man keinen Nachteil. Nehmen Sie zum Beispiel Grafologie. Die ist in der französischsprachigen Schweiz verbreiteter als in der deutschsprachigen. Ihre Vorhersagegenauigkeit ist ein bisschen besser als beim Würfeln, aber nicht viel besser. Zwei Firmen, die dieses Verfahren anwenden, haben keinen Nachteil gegeneinander. Aber wenn eine Grafologie anwendet und die andere einen ordentlichen Test, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass Letztere bessere Leute bekommt, natürlich höher. Daraus ergibt sich ein klarer Wettbewerbsvorteil. Potenziale sind mit personalpsychologischen Instrumenten eben deutlich besser vorhersagbar als mit gesundem Menschenverstand.

Gilt das für alle Aspekte des Potenzials?

Ja, für fast alle. Man kann genauere Aussagen machen über Motivation und Motive einer Person, über die Persönlichkeit, über die Leistungsfähigkeit, über die Intelligenz, über Fähigkeiten, über Fertigkeiten. Wenn Sie sich nur auf Ihre Intuition verlassen, hängt die Beurteilung sehr stark von der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Erfahrungen ab. Zwei Beurteiler können so zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ein Rest an Unsicherheit verbleibt allerdings auch bei standardisierten Tests immer.

Warum sind subjektive Beurteilungen wie unstandardisierte Interviews so fehleranfällig?

Die Entscheidungsfindung beginnt in aller Regel sehr früh und ist auch von sonstigen Merkmalen wie Sympathie, Äusseres etc. sehr stark beeinflusst. Bei negativen Entscheidungen sind Interviews meist kürzer, bei positiven länger. Interviewer fällen negative Entscheide oft sehr schnell, ohne erst mal vollständige Informationen zu sammeln, und gewichten negative Aspekte zu stark.

Welche konkreten Fehler werden da gemacht?

Informationssammlung und Bewertung werden nicht getrennt, Bewerber bekommen unterschiedliche Fragen gestellt, das Vier-
Augen-Prinzip wird nicht angewendet, es 
werden Fragen gestellt, die mit den Anforderungen im Job nichts zu tun haben, zum Beispiel nach Hobbys etc.

Können Sie sich vorstellen, dass intuitive Entscheidungen bei der Personalauswahl bald der Vergangenheit angehören?

Es ist ein Trend in diese Richtung zu beobachten. Heute wird definitiv standardisierter und strukturierter gearbeitet als noch vor 10 oder 20 Jahren. Aber wegzudenken ist das persönliche Gespräch nicht. Allein schon deshalb, weil eine rein technische Potenzialanalyse auf wenig Akzeptanz stossen würde. Zudem gibt es auch Aspekte, die mit einer Anforderungsanalyse nicht so gut zu fassen sind, die man im Gespräch aber klar feststellen kann, beispielsweise ob ein künftiger Aussendienstmitarbeiter stottert.

In vielen KMU werden Einstellungsentscheide vor allem durch unstrukturierte Gespräche getroffen. Entgehen dem Arbeitgeber dann wichtige Informationen?

Ich finde es persönlich etwas riskant, jemanden mit einem unstrukturierten Interview einzustellen. Ich habe mit meiner Arbeitsgruppe ja auch eine Art Kleinbetrieb und führe auch Gespräche. Aber wir reichern diese mit Arbeitsproben an und stellen so fest, wie sich die Person in dem Arbeitsumfeld verhalten würde.

Besteht bei Persönlichkeitstests die Gefahr, dass sich die Kandidaten besser darstellen, als sie wirklich sind?

Ja, die Gefahr besteht. Deshalb ist es hilfreich, wenn man neben der Selbsteinschätzung auch Fremdeinschätzungen ankündigt und durchführt – besonders bei internen Bewerbern. Wenn die Kandidaten wissen, dass ihre Kollegen oder Vorgesetzen sie ebenfalls beschreiben, reduziert sich die Neigung, sich sozial erwünscht darzustellen. Denn wenn Selbst- und Fremdbild extrem voneinander abweichen, kann der Kandidat schlecht sagen, dass seine gesamte Umgebung seine Fähigkeiten unzureichend wahrnimmt.

Sind Menschen mit hohem Potenzial immer leistungsfähig?

Es gibt Personen, die vom Intellekt oder von der Persönlichkeit her in der Lage wären, Hervorragendes zu leisten. Das kognitive Potenzial ist also vorhanden. Aber wenn eine solche Person nicht motiviert ist, wird das Potenzial nicht umgesetzt werden können.

Wo sind die Grenzen der Potenzialanalyse?

In der Sicherheit, der Dauer und dem Detailgrad der Aussage. Potenzialaussagen sind immer nur Wahrscheinlichkeitsaussagen und in ihrer Aussagekraft auf einige Jahre begrenzt. Wenn jemand intelligenter ist oder besser im Assessment Center abschneidet, bekommt er bessere Jobs und hat dadurch andere Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Insofern ist die Vorhersagekraft auf vielleicht drei bis fünf Jahre beschränkt. Auch die Motivation kann sich im Laufe des Lebens ändern und eine Person kann dann eine andere Ausrichtung wählen.

Wie sinnvoll sind Vorhersagen über die Potenziale von Lernenden?

Die Stabilität der Interessen und Motive ist in diesem Alter eher variabel. Aber kognitive Faktoren wie Intelligenz sind auch in diesem Alter gut nutzbar, um Vorhersagen machen zu können.

Wie kann ein Personaler erkennen, ob ein Test gut ist?

Wichtig ist vor allem die Valitidät: Ein guter Test hat eine Validität zwischen 0,3 und 0,5. Höher ist unrealistisch, weniger ist schlecht. Ganz wichtig ist es, festzustellen, ob die Ergebnisse zur Validität in Peer-Review-Zeitschriften veröffentlicht wurden, also solchen Publikationen, die auf die Qualität achten. Wenn Unternehmensberater Tests mit einer Validität von 0.8 anbieten, ist das mit Sicherheit falsch, aber nur schwer überprüfbar. Und es gibt sehr viele unseriöse Anbieter auf dem Markt.

Wie erkennt man einen seriösen Anbieter?

Über die DIN-Norm lässt sich sicherlich etwas über die Seriosität eines Anbieters 
erfahren. Wenn Psychologen mit Universitätsabschluss Potenzialanalyseverfahren anbieten, kann ebenfalls davon ausgegangen 
werden, dass die Seriosität vergleichsweise hoch ist. Vor Anwendern, die Produkte mit einer so genannten «black box» verkaufen, möchte ich warnen. «Black box» bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dem Kunden unklar bleibt, wie das Verfahren funktionieren soll. Ein Mitarbeiter nimmt daran teil, es erfolgt eine intransparente Auswertung in einer «black box» und am Ende entsteht eine Potenzialaussage.

Wer kann die Tests durchführen?

Dies hängt vom Verfahren ab. Allgemein sollte man immer mit psychologischer Hilfe starten, denn es ist schwierig, sich das Wissen über die Interpretation der Tests anzueignen. Wenn ein Unternehmen dann aber regelmässig ein standardisiertes Verfahren anwendet, kann ich mir vorstellen, dass auch ein richtig geschulter HR-Mitarbeiter diese sinnvoll anwenden kann.

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