Systeme sozialer Sicherheit: Neues EU-Recht lässt Firmen viel Spielraum
Ab dem 1. Mai 2010 gelten in Europa neue Verordnungen, welche die Systeme der sozialen Sicherheit innerhalb der EU-Staaten einheitlicher regeln und koordinieren. Davon ist auch die Schweiz betroffen. Allerdings erst ab 2011. Dies bietet Schweizer Unternehmen die Gelegenheit, allfälligen Handlungsbedarf in Ruhe planen zu können.
Ab dem 1. Mai 2010 werden die Systeme der sozialen Sicherheit in Europa durch neue EG-Verordnungen geregelt werden. Zwar werden die neuen Regelungen nicht ab demselben Datum auf Sachverhalte mit Bezug auf die Schweiz anwendbar sein, es ist aber damit zu rechnen, dass dies ab 2011 der Fall sein wird. Ziel dieses Artikels ist es, sowohl auf die im EU-Raum ab 1. Mai 2010 gültigen neuen Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit aufmerksam zu machen als auch auf den notwendigen Handlungsbedarf und allfällige planerische Gestaltungsmöglichkeiten der betroffenen Unternehmen hinzuweisen.
I. Neues EU-Recht zur Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit
Seit dem Inkrafttreten der Verordnungen (EWG) 1408/71 und 574/72 für die Schweiz werden die Systeme der sozialen Sicherheit im EU-Raum wie auch in der Schweiz aufgrund dieser Regelungen einheitlich koordiniert. Die Verordnungen gewährleisten, dass den Arbeitnehmenden und den Selbständigerwerbenden sowie deren Familienangehörigen keine sozialversicherungsrechtlichen Nachteile entstehen, wenn sie ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft wahrnehmen. Aufgrund der geänderten Rechtslage werden grenzüberschreitende Sachverhalte im EU-Raum durch diese neuen Verordnungen koordiniert. Davon ausgenommen bleiben Beziehungen mit Drittstaaten, zum Beispiel EFTA-Staaten, und deren Staatsangehörigen.
Hervorzuheben ist, dass die neuen EG-Verordnungen mithin auf Sachverhalte mit Bezug auf die Schweiz nicht ab demselben Zeitpunkt anzuwenden sind. Vielmehr bleiben auf grenzüberschreitende Sachverhalte zwischen der Schweiz und der EU auch ab dem 1. Mai 2010 weiterhin die Rechtsvorschriften der Verordnungen (EWG) 1408/71 und 574/72 anwendbar. Eine Anwendung der neuen EG-Verordnungen auf Sachverhalte zwischen der Schweiz und der EU erfolgt erst, wenn das Freizügigkeitsabkommen CH–EG entsprechend angepasst wird. Der Zeitpunkt dieser Anpassung ist noch nicht bekannt. Die Verordnung (EWG) 1408/71 wird – soweit bis zum 1. Mai 2010 nicht noch Abweichendes geregelt wird – unter anderem weiterhin Anwendung finden:
- in Bezug auf die Drittstaatsangehörigen (nicht EU-Staatsangehörige),
- in Bezug auf die EWR-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen und
- im Rahmen der Anwendung des Freizügigkeitsabkommens mit der Schweiz.
II. Wesentliche Änderungen und Übergangsfristen
1. Wesentliche inhaltliche Aspekte der neuen Verordnungen
Als wesentliche Änderungen der neuen EG-Verordnungen erscheinen zunächst die Ausweitung des persönlichen Geltungsbereichs auf Nichterwerbstätige sowie der Ausschluss der Anwendung auf Drittstaatsangehörige. In Bezug auf den sachlichen Geltungsbereich sind die Anpassungen mannigfaltig. In diesem Artikel werden einzig die Anpassungen im Unterstellungsbereich dargestellt (vgl. Abschnitt III).
2. Übergangsbestimmungen
Die neue Verordnung (EG) 883/2004 begründet für die Zeit vor dem 1. Mai 2010 keine Ansprüche. Alle Sachverhalte, die bis zum 30. April 2010 eintreten, werden nach den Regelungen der bisherigen Verordnung (EWG) 1408/71 beurteilt. Gelten für eine Person gestützt auf die Verordnung (EG) 883/2004 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaates als desjenigen, der durch die Verordnung (EWG) 1408/71 bestimmt wurde, bleiben die Rechtsvorschriften letzterer Verordnung so lange anwendbar, als sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert.
Die betreffende Person kann beantragen, den gemäss der neuen Verordnung (EG) 883/2004 anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden.
III. Wesentliche Änderungen bei den Unterstellungsregelungen
1. Unselbständige Erwerbstätigkeit in nur einem Staat (inklusive Entsendung)
Sowohl gemäss der neuen als auch gemäss der bisherigen Verordnung unterliegt eine Person den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Staates, in dessen Gebiet sie ihre Tätigkeit ausübt (Territorialitätsprinzip). Als Ausnahme gilt etwa die Entsendung einer Person. In diesem Falle unterliegt die entsandte Person den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des entsendenden Staates und nicht des Tätigkeitsstaates, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit 24 Monate nicht überschreitet (bisher waren es 12 Monate) und die betreffende Person nicht eine andere Person ablöst.
Die bislang bestehende Möglichkeit der Beantragung einer Verlängerung der Entsendung um maximal 12 weitere Monate entfällt künftig, da die Grunddauer auf 24 Monate erhöht wird. Die Möglichkeit des Abschlusses einer Sondervereinbarung zwischen den massgebenden Sozialversicherungsbehörden der beiden Staaten bleibt bestehen, bedarf aber der Zustimmung beider Behörden.
2. Unselbständige Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten
Personen, die ihre unselbständige Erwerbstätigkeit gewöhnlich in zwei oder mehreren Mitgliedstaaten ausüben, unterlagen bislang je nach Sachverhalt entweder den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Wohnstaates der Person oder denen des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet der Arbeitgeber der Person seinen Betriebssitz hat. Bei Vorliegen bloss eines Arbeitsvertrages reichten bislang schon wenige Stunden der Tätigkeit im Wohnsitzstaat, um eine Unterstellung unter das Sozialversicherungsrecht des Wohnsitzstaates zu bewirken. Nach der neuen Verordnung unterliegt eine solche Person aber nur noch dann den Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit des Wohnstaates, wenn dort ein wesentlicher Teil der unselbständigen Tätigkeit ausgeübt wird.
Die Voraussetzung der Ausübung eines wesentlichen Teils der unselbständigen Tätigkeit ist dann erfüllt, wenn die Person einen quantitativ erheblichen Teil der unselbständigen Tätigkeit ihrer Beschäftigung in diesem Mitgliedstaat ausübt. Wobei ein wesentlicher Teil der Beschäftigung jedenfalls dann nicht ausgeübt wird, wenn dieser Teil im Rahmen einer Gesamtbewertung unter dem Gesichtspunkt der Arbeitszeit und/oder des Arbeitsentgelts weniger als 25 Prozent der gesamten Beschäftigung der Person ausmacht.
3. Unselbständige und selbständige Erwerbstätigkeit in mehreren Mitgliedstaaten
Bei Personen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten eine selbständige und eine unselbständige Tätigkeit ausüben, kann es unter der derzeit geltenden Verordnung bei bestimmten Länderkombinationen zu einer Anwendung der Rechtsvorschriften von zwei Mitgliedstaaten kommen. Nach der neuen Verordnung (EG) 883/2004 sind in solchen Fällen nur noch die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates anwendbar.
IV. Fazit und Handlungsbedarf
Wie den obigen Erläuterungen entnommen werden kann, wird ab dem 1. Mai 2010 bei eurointernationalen Tätigkeiten mit und ohne Bezug zur Schweiz für die Beurteilung des anwendbaren Rechts weiterhin entscheidend sein, in welchen Ländern die Tätigkeiten ausgeübt werden, ob diese Tätigkeiten sozialversicherungsrechtlich als unselbständige oder selbständige Tätigkeiten qualifiziert werden, welche Staatsbürgerschaft die Tätigkeit ausübenden Personen innehaben sowie in welchem Umfang und wo diese Tätigkeiten ausgeübt werden.
Unternehmen, welche sich mit diesen Entscheidungskriterien (frühzeitig) auseinandersetzen, werden feststellen, dass auch mit diesen neuen Regelungen viel planerischer Gestaltungsspielraum besteht. Ersichtlich ist ein solcher insbesondere bei Entsendungen von Personen, die im Ausland leben oder in mehreren Ländern tätig sind. Wenn im globalen Markt die Mitarbeitenden in verschiedenen Ländern eingesetzt oder aus verschiedenen Ländern rekrutiert werden sollen, ist es somit aus unternehmerischer Sicht sinnvoll, bei der Personalplanung nicht nur steuerliche, sondern auch sozialversicherungsrechtliche Aspekte mit einfliessen zu lassen. Entsprechend empfiehlt es sich, zu prüfen ob:
- die Person nach den bisherigen und nach den neuen Regeln dem gleichen Sozialversicherungsrecht unterliegt. Ist dies nicht der Fall, empfiehlt es sich, zu untersuchen, ob ein Antrag gestellt werden soll, um denjenigen Rechtsvorschriften unterstellt zu werden, welche gemäss der neuen Verordnung (EG) 883/2004 anzuwenden sind,
- eine Möglichkeit besteht, diese Person einem anderen Sozialversicherungsrecht zu unterstellen, beispielsweise mittels einer Entsendung, einer Änderung der arbeitsvertraglichen Situation, einer Änderung des Tätigkeitsortes oder einer Aufnahme beziehungsweise Aufgabe einer zusätzlichen Tätigkeit.
Die rechtliche Notwendigkeit einer Parallelanwendung beider Verordnungen ist aus Sicht der Arbeitgeber und Berater höchst problematisch, da die Gefahr von systematischen Umsetzungsfehlern im Bereich der Personalbetreuung als auch bei den Sozialversicherungsträgern nicht auszuschliessen ist. Es bleibt zu hoffen, dass die politische Ebene den dringenden Handlungsbedarf erkennt und kurzfristig die entsprechenden Massnahmen ergreift.