Erfolgsmodell Berufslehre

Ungenutzte Potenziale gegen Fachkräftemangel

Von der Lehrwerkstatt bis zur Geschäftsführung: Schweizer Karrierewege zeigen, dass die Lehre alles andere als eine Sackgasse ist. Wie HR und Unternehmen dazu beitragen können, dieses Potenzial sichtbar zu machen.

Die Schweizer Berufsbildung gilt international als Erfolgsmodell. Jährlich beginnen rund 10 000 Jugendliche mit einer Berufslehre. Doch auch hierzulande stellen sich Fragen: Wie können wir Jugendliche für eine Lehre begeistern? Wie können Unternehmen die Chancen nutzen, die sich aus der Durchlässigkeit im Bildungssystem ergeben? Und wie lässt sich dem Fachkräftemangel entgegenwirken? Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen, Stimmen aus der Praxis und die Rolle des HR zeigt: Die Potenziale sind gross, wenn wir sie konsequent nutzen würden.

Jugendliche dort abholen, wo sie sich bewegen


Die Berufswahl beginnt früh und oft etwas orientierungslos. Jugendliche verbringen viel Zeit in sozialen Medien – TikTok, Instagram und YouTube sind Inspirationsquellen. Wer dort mit authentischen Inhalten, Einblicken in Lehrberufe und echten Geschichten präsent ist, hat die Chance, Interesse zu wecken. Lehrstellenvideos, kurze Clips aus dem Berufsalltag oder «Takeovers» durch Lernende wirken nahbar und glaubwürdig.

Gleichzeitig brauchen Jugendliche reale Erlebnisse: Sie wollen Berufe ausprobieren, Werkzeuge in die Hand nehmen und echte Arbeitsumgebungen spüren. Gefässe wie «Lehrberufe Live!» werden relevanter. Dabei handelt es sich um eine digitale Plattform, die mit authentischen Berufsvideos viermal jährlich direkt in die Klassenzimmer der Deutschschweiz sendet. Schülerinnen und Schüler können so im Berufswahlunterricht online «vorschnuppern» und per Chat ihre Fragen direkt an den Lehrbetrieb und die Lernenden stellen. Auch Berufsmessen schaffen Erfahrungen, einfach physisch. Es geht darum, die digitale und analoge Welt intelligent zu verbinden. Corinne Hert, Kommunikationsleiterin und Agenturinhaberin der Komet Werbeagentur AG, meint dazu: «Es ist wichtig, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie ihre Zeit verbringen. Das sehe ich auch bei unseren Lernenden – und dann muss man Perspektiven aufzeigen. Es hilft mir enorm, dass ich mein Metier von der Pike auf kenne, vor Jahren Polygrafin lernte und meinen beruflichen Werdegang nicht zu theoretisch angegangen bin. Das macht mich glaubwürdig.»

Eltern bleiben Schlüsselpersonen


So sehr Jugendliche auf Peers und Influencerinnen und Influencer hören, am Ende spielen Eltern bei der Berufswahl eine entscheidende Rolle. Sie wollen Sicherheit und eine Zukunftsperspektive für ihr Kind. Berufsmessen und Veranstaltungen wie die «SwissSkills» – die nationalen Berufsmeisterschaften und die grösste Berufsmesse in der Schweiz –, bieten ihnen Inspiration und handfeste Eindrücke. Aber sie machen sich auch sehr genau Gedanken, was heute und morgen auf dem Arbeitsmarkt gesucht wird. Wenn nun für Stellen mit höheren Anforderungen meist ein universitärer Bachelor oder Master verlangt wird, motivieren die Eltern ihren Nachwuchs eher zum gymnasialen Weg. Dass dem eigentlich nicht so sein müsste, bringt mit Andreas Furgler, Geschäftsführer Ceruniq (Plattenleger), ein Akademiker mit juristischem Hintergrund auf den Punkt: «Im Plattenleger- und allgemein im Ausbaugewerbe zeigt sich eindrücklich, dass Handwerk goldenen Boden hat. Viele frühere Lernende sind heute unternehmerisch erfolgreich tätig. Diese Fachleute wollen wir unbedingt in unserer Branche halten. Viele von ihnen haben nach der Lehre verschiedene Weiterbildungen und Abschlüsse angehängt.»

Akademisierung – eine Einbahnstrasse?


Viele Stelleninserate erwecken den Eindruck: Für attraktive Jobs braucht es zwingend ein Hochschulstudium. Das trägt zur zunehmenden Akademisierung bei – und dazu, dass Jugendliche mit Potenzial für eine Lehre den Weg ans Gymnasium einschlagen. Damit geht wertvolles Talent für die duale Berufsbildung verloren.

HR-Fachleute könnten hier gegensteuern. Eine kritische Frage bei jeder Ausschreibung sollte sein: «Braucht es wirklich zwingend einen Uni-Abschluss?» Oder ist nicht auch ein Weg über ein EFZ, eine Weiterbildung und einen Fachausweis sinnvoll oder sogar passender? Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels würde dies neue Chancen eröffnen: Lehrstellen könnten vermehrt passend besetzt werden, Teams würden diverser – auch im Hinblick auf Bildungswege. Selbstverständlich gibt es Grenzen: Eine Ärztin oder ein Arzt ohne Medizinstudium ist undenkbar. Doch in vielen anderen Bereichen gibt es Alternativen, die es wert sind, geprüft und gefördert zu werden. Bernhard von Mühlenen, heute Direktor beim Verband AM Suisse, begann einst als Metallbauer: «Es hilft mir enorm, dass ich den Königsweg über Berufslehre, Berufspraxis und Studium machen durfte. Als Vertreter eines Dachverbands von zwei Berufsverbänden ist es wertvoll, mit Praxishintergrund zu wissen, was eine handwerkliche Berufslehre wirklich bedeutet.»

Dass Berufsbildung echte Karrierewege eröffnet, zeigen zahlreiche Beispiele. Diese Profile machen deutlich: Durchlässigkeit funktioniert, und sie schafft Vorbilder, die Jugendlichen Orientierung geben können. Corinne Hert ergänzt: «Wir leben unseren Lernenden vor, dass auch später unterschiedliche Bildungswege zum Ziel führen können.»

Chancen für das HR und das Unternehmen


Für das HR ergibt sich daraus eine doppelte Aufgabe:

Voraussetzungen hinterfragen: Stellenprofile müssen kritisch darauf geprüft werden, ob ein Hochschulabschluss wirklich notwendig ist.

Attraktiv kommunizieren: auf digitalen Kanälen wie auch bei klassischen Berufsanlässen. Und vor allem wiederkehrend die Zielgruppen fragen, wo sie sich betreffend Werdegängen informieren.

Wer offen ist für verschiedene Bildungswege und Werdegänge, erweitert den Talentpool erheblich. Unternehmen profitieren von Mitarbeitenden, die Praxis und Theorie kombinieren und damit oft einen besonders wertvollen Beitrag leisten. Raphael Ineichen, Gründer des Recruiting-Dienstleisters digitalent, sagt: «Es gibt meistens utopische Anforderungen bei Stellenbeschrieben, da muss ich mich mit meinen Kunden jeweils gerade in Branchen mit Fachkräftemangel auf die wirklich relevanten Punkte fokussieren. Das bedeutet, dass plötzlich Personen in den Fokus rücken, die man nicht auf dem Schirm hatte und rückblickend gut ins Unternehmen passen.»

Die Berufsbildung in der Schweiz bietet Durchlässigkeit und Vielfalt, ein Potenzial, das gerade in Zeiten von Fachkräftemangel noch stärker genutzt werden sollte. Jugendliche brauchen Vorbilder, reale Erfahrungen und Unterstützung durch ihre Eltern. Unternehmen wiederum profitieren, wenn sie Bildungswege diverser denken und akademische Anforderungen kritisch prüfen. Abschliessend kann gesagt werden, dass die Gewinnung von Talenten weiterhin Entwicklungspotenzial bietet, das genutzt werden sollte.

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Das Bild zeigt Andreas Schneider.

Andreas Schneider war HR-Leiter bei Axept Webcall und baute die Ausbildung von Lernenden sowie die interne Entwicklung von Communications- und  Collaboration-Spezialistinnen und -Spezialisten auf. Im Oktober 2012 folgte die Rückkehr zur Agentur F+W Communications, die Berufs­verbände im Personal­marketing unterstützt.  2013 wurde er dort Geschäfts­­führer und 2016 Inhaber.

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