Unternehmenskultur aus neurowissenschaftlicher Sicht
Nach einer Studie von booz&co. sind über 80 Prozent der globalen Manager davon überzeugt, dass Kultur ein wichtiges zu bearbeitendes Thema ist. Eine Vielzahl an Studien belegt den Zusammenhang zwischen Kultur und Erfolg – ökonomischen und psychologischen. 60 Prozent sehen Kultur sogar als wichtiger als Strategie oder das Geschäftsmodell an.
Wir spiegeln Wahrgenommenes gegen gedächtnismässig Bekanntes. Was wir nicht kennen, fällt auf. (Foto: iStockphoto)
Es gibt kaum ein relevantes Thema, das nicht doch letztlich auf die in einem Unternehmen vorherrschende Kultur zurückgeführt wird: Erfolg, M&A’s, Führung, Kreativität/Innovation, Diversity, Kooperation & Konflikt, Zufriedenheit, Stress, Burnout, Retention, Employer Branding.
Doch worüber genau reden wir eigentlich, wenn wir über Kultur reden? Oft sind Werte und Praktiken gemeint oder Gewohnheiten – und da liegt bereits das Problem. Denn ob diese oder andere gängige Attribute, sie werden gemeinhin als zu «weich» oder «vage» eingestuft. Gewohnheiten? Das ist irgendwie alles und nichts. Und ausserdem gibt es keine Gewohnheit, die nicht den speziellen Umständen einer Situation zum Opfer fällt. Werte? Allein die Nennung des Begriffs führt bei immer mehr Belegschaften zu heftiger Ablehnung. «Bloss nicht wieder diese heuchlerisch verlogene Wertediskussion.» Solche oder ähnliche Kommentare sind erwartbar. Insbesondere junge Nachwuchsführungskräfte stehen der gängigen Wertediskussion sehr skeptisch gegenüber, weil sie in der Praxis zu oft erleben, wie Entscheidungen getroffen werden, die dem selbst auferlegten Wertekanon entgegen stehen.
Das Kernproblem der Managementdisziplin Unternehmenskultur ist ihre Unterbestimmtheit. Wenn sich erst einmal die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass ein Problem kulturell bedingt ist, macht sich schnell Hilflosigkeit breit. Denn den gängigen Konzepten fehlt es an Belastbarkeit, die für einen von Zuversicht geprägten Angang nötig ist. Das liegt unter anderem auch daran, dass rationale Aspekte des Miteinanders im Vordergrund stehen und emotionale kaum eine Rolle spielen. Doch unter dem Einfluss von Emotionen ändert sich unser Verhalten und das Miteinander in gravierender Weise. Wir sind (auch) emotionale Wesen und quasi jedes relevante Ereignis, ob privat oder am Arbeitsplatz, verläuft emotional. Konzepte, die das nicht berücksichtigen, laufen Gefahr, an der Lebenswirklichkeit von Menschen vorbei zu rauschen. Was also tun?
Neurowissenschaften zum Verständnis von Kultur
Nun, ohne dass es je explizit beabsichtigt gewesen wäre, trägt der immense Erkenntniszuwachs der Neurowissenschaften zu einem erheblich verbesserten Verständnis von Kultur bei: was sie ist, wie sie ihre Wirkung entfaltet und sich ändert (vgl. dazu auch das Fallbeispiel am Ende des Textes). Um das zu verdeutlichen bietet sich folgender Gedankengang an:
Unternehmenskultur ist damit befasst, Verhalten in Unternehmen zu erklären und gezielt darauf Einfluss zu üben. Verhalten kann in Einzelkomponenten wie Wahrnehmen, Deuten, Fühlen, Denken, Entscheiden und Handeln aufgegliedert werden, die im Zentrum neurowissenschaftlichen Interesses stehen.
Schauen wir uns das Wahrnehmen etwas genauer an. Sie kommen in eine neue Situation und binnen Bruchteilen einer Sekunde fällt Ihnen auf, was Sie «ungewöhnlich» finden. Aber das, was Sie ungewöhnlich finden, finden Sie ungewöhnlich, weil Sie eine abweichende «Norm» kultivierten. Es ist das Ergebnis der Kultivierung Ihres Geistes und Ihres Körpers, Ihrer persönlichen Entwicklungsgeschichte. Aus neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zu Wahrnehmung, Gedächtnis und Lernen wissen wir, wie es zu dieser Differenzierung kommt. Stark vereinfacht ausgedrückt, spiegeln wir Wahrgenommenes gegen gedächtnismässig Bekanntes. Was nicht drin ist, kann nicht (sofort) erkannt werden. Je nachdem, was wir im Laufe unserer Individualgeschichte kultivierten – also lernten und gedächtnismässig speicherten – fassen wir andere Dinge als «normal», «ungewöhnlich», «positiv/negativ» oder etwa «ethisch vertretbar» bzw. «wertekonform» auf.
Tatsächlich bilden wir entsprechende gedächtnismässige (neuronale) Repräsentationen in unseren Gehirnen: Gedächtnisinhalte, die emotional positiv, neutral oder negativ belegt sind. Wie wir solche Gedächtnisinhalte bilden (lernen), wie sie sich im Zeitverlauf verändern, welche Rolle sie bei der Wahrnehmung und beim Nachdenken haben oder wie sich unser Zugriff darauf im emotionalen Zustand verändert – all das sind Vorgänge, die durch die Neurowissenschaften erheblich erhellt werden und durch die erstmals ein bei weitem belastbareres Verständnis von Kultur möglich wird.
Buchtipp
«Neurokultur» ist ein neuartiges Kulturkonzept. Es baut auf Erfahrungen auf, die in den letzten 30 Jahren mit Unternehmenskultur gesammelt wurden und ergänzt sie um neueste Erkenntnisse aus Hirn- und Emotionsforschung. Jenseits populär klingender Thesen des jüngsten Neuro-Hypes wird die Komplexität eine Weile zugelassen, um sie letztlich in einfach handhabbare Handlungsempfehlungen zu verdichten.
Reisyan, Garo D.: Neuro-Organisatonskultur. Moderne Führung orientiert an Hirn- und Emotionsforschung. Springer Gabler 2013.
Reflexivität, Vorstellungen und Emotionen für ein neues Kulturkonzept
Beispielsweise wird der Einfluss von Gedächtnisinhalten auf Denk-/ Entscheidungsprozesse und daraus resultierendes Handeln deutlich. Wir haben die Art und Weise über etwas nachzudenken (wie lange, wie detailliert, logisch oder multiperspektiv) ebenfalls kultiviert – man kann auch «trainiert» sagen. Identisches gilt für unsere emotionalen Muster. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zum Thema Lernen helfen uns, erheblich belastbarer zu begreifen, wie Kultur sich verändert oder gezielt entwickelt werden kann.
«Neurokultur» nutzt derartige Erkenntnisse und leitet sie in ein neues Kulturkonzept über. Das Modell zur Beschreibung kultureller Phänomene sieht die drei Bausteine Reflexivität, Vorstellungen und Emotionen vor. Die für eine konkrete Fragestellung relevanten Dispositionen werden im Rahmen einer Analyse identifiziert.
Die zu einem Zeitpunkt vorherrschende Komposition kultureller Dispositionen wurde herausgebildet, da sie sich aus subjektiver Sicht zur Bedürfnisdeckung und Wunschbefriedigung bewährte und da angenommen wird, dass sie sich auch in Zukunft bewähren wird. Unternehmenskultur ist die von einer grossen Mehrheit (von der es nur wenige Ausnahmen gibt) geteilte Schnittmenge an Dispositionen.
Kernstück sind Vorstellungen – im operativen Bereich etwa darüber, welche Ziele akzeptabel sind, wie sie gesetzt und erreicht werden, wie geführt oder zusammengearbeitet wird und wie Konflikte ausgetragen werden sollten. Hier wird ein umfassendes Begriffsinventar angedient. Reflexivität beschreibt, wie ausführlich, detailliert, multiperspektiv, logisch richtig etc. über etwas bzw. das Selbst nachgedacht/reflektiert wird. Reflexivität als kulturelle Entwicklungssphäre, die Grundlage zur Bildung von Meinungen (die bei Bewährung zu Vorstellungen avancieren) und emotionalen Dispositionen ist. Im Baustein Emotionen wird der kultivierte Umgang mit Emotionen erfasst oder das Temperament eingestuft. Es wird thematisiert, welche alternativen Verhaltensmuster sich emotionsbedingt einstellen. Plakativ beschrieben, erzeugen Emotionen ein wahres Lichtkonzert im Gehirn. Hier wird das Licht eingeschaltet/herunter gedimmt und da aus/hoch. Entsprechend wird Verhalten im emotionalen Zustand von anderen Hirnregionen, und damit von einem anderen Set an Vorstellungen bestimmt.
Alles in Allem lässt das neue Konzept eine weitaus zuverlässigere Beschreibung kultureller Phänomene und zuversichtlichere Arbeit an Kultur zu. So erlangen Hypothesen darüber, warum beispielsweise die Innovationsleistung hinter den Erwartungen zurückbleibt eine höhere Sicherheit. Darauf aufsetzende Massnahmen können verbindlicher geplant werden und erzielen zuverlässiger ihre intendierte Wirkung.