Reorganisation

Vier wichtige Dimensionen von Gerechtigkeit bei Reorganisationen

Menschen wünschen sich Sicherheit und Vorhersagbarkeit. Verändert sich ein Unternehmen von Grund auf, sind diese Prämissen nicht mehr zu erfüllen. Deshalb ist besonders in kritischen Phasen entscheidend, die Gerechtigkeit zu wahren: Sie ist für Mitarbeitende in Umbruchphasen das wichtigste Signal.

Mitarbeitende reagieren positiv auf faire und negativ auf unfaire Behandlung. Die bisherige Forschung konnte starke Effekte von Fairness oder Gerechtigkeit auf unterschiedliche Dimensionen arbeitsrelevanter Einstellungen und Verhaltensweisen wie Arbeitszufriedenheit, affektive Bindung, Vertrauen in die Führungskräfte, Arbeitsleistung und kooperatives Arbeitsverhalten belegen. Umgekehrt hat sich gezeigt, dass wahrgenommene Unfairness zu negativen Reaktionen wie emotionalem Rückzug, innerer Kündigung, Fehlzeiten, Diebstahl und Widerstand gegen Veränderungen führt. Organisationen sollten daher prinzipiell auf die Einhaltung der vier etablierten Gerechtigkeitsbedingungen, nämlich distributiver, prozeduraler, interpersonaler und informationaler Gerechtigkeit, achten.

Warum ist dies gerade bei Reorganisationsmassnahmen so wichtig? Weil Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nach Sicherheit und Vorhersagbarkeit haben. Ein wesentliches Merkmal von Reorganisationen ist aber, dass sie bezüglich wichtiger Merkmale wie Ergebnis, Ablauf, Ereignisse und Dauer unsicher sind und daher oft negativ erlebt werden. Faire Bedingungen helfen Mitarbeitern, Unsicherheit zu reduzieren, weil sie sich dann darauf verlassen können, dass sie nicht benachteiligt werden, ihre Meinung und Interessen berücksichtigt werden, sie respektvoll behandelt und über wichtige Entwicklungen rechtzeitig informiert werden («Auch wenn unklar ist, was passieren wird, ich kann mich hundertprozentig darauf verlassen, dass es fair zugehen wird.»).

Reorganisationen sind immer auch ein wichtiges Signal für den Stellenwert von Mitarbeitern im Unternehmen: «Schaut das Management auf diese nur als zu reduzierenden Kostenfaktor oder auch auf ihre Interessen, ihr Wohlergehen und ihre Befindlichkeit?» Besonders bedeutsam ist hierbei für Mitarbeiter die positive Erfahrung, die durch eine faire Behandlung vermittelt wird; nämlich dass man ein wertvolles, respektiertes Mitglied des Unternehmens ist. Dadurch wird eine positive, vertrauensvolle Beziehung zwischen Mitarbeiter und Arbeitgeber nachhaltig gestärkt.

Distributive Gerechtigkeit

Bei der Bekanntgabe von anstehenden Reorganisationsmassnahmen stellen sich die Betroffenen die Frage, welche persönlichen Vor- oder Nachteile sie zu erwarten haben. Da Ressourcen wie Arbeitsplätze und -mittel, Prämien, oder hierarchische Stellung nicht in beliebigem Umfang zur Verfügung stehen und im Rahmen von Reorganisationen häufig neu verteilt werden, ist eine Frage, wie eine faire Verteilung gewährleistet werden kann. Eine faire Verteilung liegt dann vor, wenn die Ergebnisse unter Berücksichtigung bestimmter Regeln zustande gekommen sind: Das Verhältnis des eigenen Inputs (z.B. Arbeitsleistung) zum eigenen Output (z.B. Verdienst, Beförderung oder sonstige betriebliche Leistungen) entspricht dem, was relevante Bezugspersonen (z.B. Arbeitskollegen) für eine ähnliche Leistung erhalten (Equity).

Andere Verteilungsregeln betonen die Bedeutsamkeit von Gleichheit (insbesondere gebräuchlich in privaten Beziehungen; Equality) oder Bedürftigkeit (z.B. soziale Sicherungssysteme; Need) als Prinzipien gerechter Verteilungsprozesse. In der Praxis finden sich häufig Mischformen dieser Prinzipien. Die Neigung von Personen, die eigene Leistung zu überschätzen und bei unfairer Bevorzugung (z.B. Überbezahlung) zufriedener zu sein als bei unfairer Benachteiligung, erschwert die Etablierung von Verteilungsregeln, mit denen alle Betroffenen zufrieden sind. Im betrieblichen Alltag lässt sich distributive Gerechtigkeit daher langfristig nur durch stetes Austarieren, Verhandeln und gute Begründung der eingeführten Regeln gewährleisten. Mitarbeiter sollten regelmässig befragt werden, ob sie sich benachteiligt fühlen oder das Verhältnis zwischen eigener Leistung und erlebter Veränderung als angemessen empfinden. Bei erlebter distributiver Unfairness kann auf die Begrenzung von Ressourcen hingewiesen werden und zum Beispiel durch immaterielle oder symbolische Wertschätzung wie öffentliche Belobigungen, Auszeichnungen oder Anerkennungen ein Ausgleich geschaffen werden.

Prozedurale Gerechtigkeit

Unabhängig von den gewählten Verteilungsregeln hat sich gezeigt, dass es für Mitarbeiter bedeutsamer ist, wie eine Entscheidung getroffen wird. Entscheidungen bei Reorganisationen sind meist dadurch gekennzeichnet, dass Mitarbeiter diese nicht direkt selbst treffen können. Daher kommt der fairen Gestaltung von Entscheidungen eine zentrale Bedeutung zu. Mitarbeiter engagieren sich insbesondere dann für die Umsetzung einer Entscheidung, wenn die Entscheidungsfindung als fair wahrgenommen wird. Dies gilt sogar dann, wenn sie überzeugt sind, keinen oder einen nur sehr geringen Einfluss auf die Entscheidung haben zu können. Faire Entscheidungen sind durch folgende Merkmale gekennzeichnet:

  • Die Betroffenen haben die Möglichkeit, ihre Meinung kund zu tun und Gehör zu finden (Voice). Mit Voice ist nicht Mitbestimmung oder Partizipation im klassischen Sinn gemeint, sondern die Möglichkeit, den eigenen Standpunkt zu artikulieren. Bei den Bedingungen prozeduraler Fairness hat sich Voice als einflussreichste Bedingung erwiesen. Wie keine andere Bedingung vermittelt das Geben von Voice die Botschaft: «Deine Meinung ist uns wichtig, du bist ein wichtiges Mitglied dieser Organisation!»
  • Die verwendeten Regeln und Entscheidungsprozesse werden gleichermassen auf alle Personen und die gesamte Dauer angewendet (personelle und zeitliche Konsistenz).
  • Die Entscheidung wird nicht durch persönliches Selbstinteresse oder Voreingenommenheit der Entscheidungsträger beeinflusst (Neutralität).
  • Akkurate, das heisst korrekte und genaue Informationen werden gesammelt und bei der Entscheidungsfindung angemessen berücksichtigt (Akkuratheit).
  • Fehlerhafte oder unangemessene Entscheidungen können geändert werden (Korrigierbarkeit).
  • Das Vorgehen entspricht den persönlichen Wertvorstellungen der Betroffenen, ihren fundamentalen ethischen Werten (Moral/Ethik).
  • Die Bedürfnisse und Meinungen aller Betroffenen werden berücksichtigt (Repräsentativität).

Die Erfüllung der Bedingungen prozeduraler Gerechtigkeit ist in allen Phasen einer Reorganisation von grosser Bedeutung. Dadurch kann nicht nur die Bereitschaft der Mitarbeiter, sich mit der Veränderungsmassnahme zu identifizieren und sich für diese  zu engagieren, erhöht werden, sondern es können auch gleichzeitig die Meinungsäusserungen der Mitarbeiter als Quelle für Verbesserungsvorschläge verwendet werden. Massnahmen zur Erhöhung der prozeduralen Fairness sollten kontinuierlich auf ihre Wirkung hin überprüft werden, da die Selbsteinschätzung des Managements manchmal nicht mit der Wahrnehmung der Belegschaft übereinstimmt.

Informationale Gerechtigkeit

Informationale Gerechtigkeit umfasst die Qualität und Quantität der Informationen, die den Betroffenen in Form von akkuraten, zeitgerechten, ehrlichen und angemessenen Erklärungen gegeben werden. Dies beinhaltet die umfassende und detaillierte Information der Betroffenen zu verschiedensten Aspekten der angestellten Überlegungen, des Sachstandes, des weiteren Vorgehens als auch der getroffenen oder anstehenden Entscheidungen.

Informationale Gerechtigkeit ist besonders wichtig, wenn den Mitarbeitern eine anstehende Reorganisation mitgeteilt wird. Gerade zu Beginn sollte besonders intensiv informiert werden und sichergestellt werden, dass alle relevanten Informationen an die Betroffenen weitergegeben werden. Die ersten Informationen sollten insbesondere eine positive Vision der Veränderung, klare und widerspruchsfreie Botschaften enthalten und die nächsten Schritte erklären mit dem Ziel, Vertrauen, Sinn und Zuversicht bei den Mitarbeitern zu schaffen und Unsicherheit und negative Einstellungen zu reduzieren. Es sollte aber auch klar über mögliche Risiken und negative Aspekte informiert werden, sodass sich die Mitarbeiter mental auf Schwierigkeiten vorbereiten können. Über weitere Entwicklungen sollte dann kontinuierlich berichtet werden. Können Informationen nur verzögert weitergegeben werden (z.B. aus Wettbewerbsgründen), so sollte diese Entscheidung ausführlich (prozedurale Gerechtigkeit) und wertschätzend (interpersonale Gerechtigkeit) begründet werden.

Interpersonale Gerechtigkeit

Interpersonale Gerechtigkeit meint den respekt- und würdevollen Umgang mit den Betroffenen durch den Entscheidungsträger. Konkret umfasst dies empathische Kommunikation, also das Aufgreifen von Sorgen und Ängsten, eine Berücksichtigung des Standpunkts des Gegenübers und der Vermittlung von Verständnis und Unterstützung. Menschen wollen unabhängig vom Kontext und der konkreten Situation respektvoll behandelt werden. Dies bedeutet auch, dass die Bedingungen prozeduraler oder informationaler Gerechtigkeit nicht mechanistisch oder formalistisch angewendet werden dürfen, weil sich Mitarbeiter sonst nicht ernst genommen fühlen und reaktant reagieren werden.

In der betrieblichen Praxis erleichtert die Einhaltung der Bedingungen interpersonaler Fairness die Auseinandersetzung mit den Sachthemen. Die Verletzung dieser Bedingung führt dagegen schnell zu einer Konzentration auf persönliche Befindlichkeiten. Als Spielregel bei Auseinandersetzungen sollte daher gelten: notfalls hart in der Sache, aber immer fair gegenüber den Personen. Führungskräfte sollten sich ausreichend auf schwierige Gesprächssituationen vorbereiten, mit allen Beteiligten gleichermassen wertschätzend und respektvoll umgehen, sich in das Befinden der Mitarbeiter eindenken und das Verhalten so genannter schwieriger Mitarbeiter nicht in deren Persönlichkeit, sondern in der Unsicherheit der Situation einer Reorganisation begründet sehen.

Die psychologische Forschung zu Gerechtigkeit zeigt, wie sich ein theoretisches Modell gewinnbringend auf die Praxis übertragen lässt. Die Theorie kann erklären, wann Mitarbeiter motiviert sind, Reorganisationsmassnahmen zu unterstützen, und welche Bedingungen für eine möglichst erfolgreiche Reorganisation erfüllt sein sollten. Ferner ergeben sich konkrete Ableitungen für Führungsverhalten, die von jeder Führungskraft erlernt werden können. Entscheidend ist hierbei, dass Fairness ein Teil des eigenen Menschenbildes und damit zentrales Element der Mitarbeiterführung ist. Ist dies nicht der Fall, wirken Massnahmen zur organisationalen Fairness schnell künstlich aufgesetzt und manipulierend und werden nicht den gewünschten Erfolg zeigen.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos
Bernhard Streicher

Diplom-Psychologe Dr. habil. Bernhard Streicher arbeitet freiberuflich als Autor, Redner, Forscher und Berater. Seine Arbeitsschwerpunkte: Organisationale Gerechtigkeit, Bedingungen für Innovationen und innovatives 
Verhalten, Effekte unterschiedlicher Führungsstile sowie 
Informationssuche und Entscheidungsfindung in Gruppen und Risikosituationen. bernhardstreicher.de

Weitere Artikel von Bernhard Streicher
Dieter Frey

Dr. Dieter Frey ist Professor für Psychologie in München. Seine Arbeitsschwerpunkte: Sozialpsychologie, Organisationspsychologie, Wirtschaftspsychologie; er verbindet Grundlagenforschung, angewandte Forschung und 
Anwendung von Forschung; Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Akademischer Leiter der Bayerischen Eliteakademie.

Weitere Artikel von Dieter Frey

Cela peut aussi vous intéresser