HR Today Nr. 2/2023: Pflegenotstand

Weg vom Bett!

Der Fachkräftemangel beschäftigt viele Branchen. Doch der Pflegenotstand stösst auf ein grösseres Medienecho, weil Gesundheit einen auch persönlich betrifft. Was zu tun ist, um Mitarbeitende im Wandel zu binden, gesund zu erhalten und für ein funktionierendes Gesundheitssystem zu sorgen.

Pflegefachfrau Tabea Kaufmann erzählt: «Du wirst wie ein Schwamm ausgepresst. Es wird immer mehr erwartet und es kommen immer mehr und neue Belastungen dazu. Irgendwann hat man keine Ressourcen mehr und ist leer.» Thomas Reinhardt, diplomierter Berater für Organisationsentwicklung, begleitet Gesundheitsorganisationen seit Jahren und weiss: «Dass sich viele Pflegekräfte erschöpft und sinnentleert fühlen, bahnt sich seit langem an. Hinzu kommt, dass die zunehmende Marktorientierung des Gesundheitswesens Anreize schafft, so viele Fälle wie möglich zu behandeln.»

Pflegefachkräfte reagieren auf diese Herausforderungen unterschiedlich, konstatiert Reinhardt: «Manche kämpfen für Arbeits- und Anstellungsbedingungen und mehr Investitionen in qualifiziertes Personal, andere kündigen ihre Festanstellung und begeben sich in Arbeitsverhältnisse, die mit Uber vergleichbar sind.» Dann käme es zum Dienst auf Abruf auf eigenes Risiko. Wieder andere kehren dem Beruf den Rücken.» Umso wichtiger sei es, für Mitarbeitende Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sie sich wohlfühlen, meint Sonja Kimeswenger, Employer Branding der oberösterreichischen Gesundheitsholding (OÖG).

Fluch der Flexibilisierung

Für Festangestellte bedeutet die zunehmende Flexibilisierung eine Mehrbelastung. «Neue Mitarbeitende müssen eingearbeitet werden. Das beansprucht Ressourcen. «Arbeiten Temporäre nur kurze Zeit auf der Abteilung und wechseln oft, nimmt diese Belastung zu», meint Martina Camenzind in der Fachzeitschrift «Krankenpflege» des Schweizer Berufsverbandes der Pflegefachpersonen.

Franziska Dönni, Pflegefachfrau und Lehrende der psychologischen Methode Transaktionsanalyse, erklärt den Mechanismus so: «Werden Stammteams mit Mitarbeitenden von Drittanbietern ergänzt, müssen Festangestellte mehr Verantwortung übernehmen. Das, weil sie den Qualitätsstandard und die Strukturen kennen und auf ihrem Fachgebiet Professionisten sind. Die übermässige Arbeit ermüdet jedoch. Deswegen wollen sich viele in anderen Branchen verwirklichen.» Dieser Teufelskreis lässt Gesundheitsberufe weiter unattraktiver werden, obwohl sie sinnstiftend sind und viel Entwicklungspotenzial bieten. Um weitere Personalabgänge zu vermeiden, muss gemäss Reinhardt zunächst die individuelle Widerstandskraft gestärkt werden.

«Bei zunehmender Belastung sind wir zunächst persönlich gefordert.» Resilienz, selbstwirksames Handeln und sinnhafte Arbeitsgestaltung seien dafür zentrale Entwicklungsfelder. «Eine daran ausgerichtete Organisationskultur und ein passendes Führungsverhalten sind der Schlüssel zum Erfolg.» Dönni ergänzt: «Nicht selten verharren Pflegende aber in einer Opferrolle. Das ist auf Dauer gesundheitsschädlich. Zeigen sie dagegen, was sie benötigen und bleiben hartnäckig, können Missstände beseitigt werden. Dadurch kann das Berufsfeld wieder attraktiver werden.»

Organisatorische Anpassungen

Öffentliche Gesundheitseinrichtungen werden naturgemäss von äusseren Umständen bestimmt. «Die Lichter brennen täglich 24 Stunden lang», sagt Reinhardt. Ein gesundheitsförderlicher Aspekt bestehe darin, für Festangestellte Möglichkeiten zur Vereinbarung von Arbeitszeit mit der individuellen Lebenssituation zu schaffen. «Das bedeutet für die Arbeitsgestaltung, Kontinuität mit neuen Arbeitsformen anstelle einer übersteuerten Arbeitsteilung zu entwickeln.»

Martin Rupprecht, Personaldirektor der OÖG, unterstreicht die wesentliche Haltung für einen Paradigmenwechsel: «Erforderlich sind Massnahmen, durch die Mitarbeitende ihre Arbeitszeit der privaten Lebenszeitgestaltung anpassen können. Nicht umgekehrt.» Strukturelle Interventionen greifen dafür jedoch zu kurz. Es brauche Organisationsformen, die Mitarbeitenden Vertrauen schenken und dadurch die Arbeitsbeziehung stärken. «Wertschätzung ist ein Wertschöpfungsfaktor», bestätigt Manuela Wenger, Beraterin für die Umsetzung von Wertschätzung in Unternehmen. «Sie kann die Fluktuation bis zu 65 Prozent reduzieren.» Laut Bettina Braun, Masterstudentin Management, Organisation und Kultur an der HSG und Corporate Responsibility bei Med4life, sollten Führungskräfte deshalb ihre Wertschätzung verdeutlichen. Beispielsweise durch mehr Präsenz und Dialog. Das Gute sei, dass wertschätzendes Verhalten sofort gezeigt werden könne. «Am wirkungsvollsten durch eigenes Vorleben.»

Trotz gezeigter Wertschätzung: Gerät die selbst wahrgenommene Anstrengung der Mitarbeitenden mit der Wahrnehmung der erhaltenen Belohnung ins Ungleichgewicht, entsteht gemäss der Studie von Hämming (2018) eine Gratifikationskrise*. Dann steige die Wahrscheinlichkeit signifikant, dass Pflegefachkräfte den Beruf verlassen. «Das erlebe ich im Alltag besonders bei den Schichtzulagen», sagt Dönni. «Eine Kollegin erzählte mir: Warum soll ich mich für 200 Franken mehr im Monat mit den Schichten abmühen? Wären es 1000, würde ich die Schichtarbeit in Kauf nehmen und könnte mein Pensum reduzieren.» Belastet werden Pflegefachkräfte auch durch die zunehmende Gewalt seitens der Mitarbeitenden, der Patienten und deren Angehörigen. Um Schreiduelle auf dem Flur, Drohungen oder gar physische Gewalt zu verarbeiten, benötigen Mitarbeitende Unterstützung. «Dafür sind Supervisionen notwendig», betont Reinhardt. «Durch die gemeinsamen Teamreflexionen lassen sich positive Beziehungserfahrungen schaffen.» Für eine organisationale Resilienz und Kohärenz brauche es aber ein neues Selbstverständnis. «Hier anzusetzen, ist eine zeitgemässe Organisationsentwicklungsmassnahme.»


* vHämmig, O. (2018). Explaining burnout and the intention to leave the profession among health professionals– a cross-sectional study in a hospital setting in Switzerland. BMC health services research, 18(1), 1-11.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos
Armin Ziesemer

Armin Ziesemer ist Schweizer und Wahlsalzburger. Der Gründer der Synop-Sys Organisationsentwicklung GmbH berät im DACH-Raum mit Schwerpunkt Betriebliches Gesundheitsmanagement in der Früherkennung und -intervention. Als Ko-Produzent des Podcasts «Mit Brille und Bart» wirkt seine Stimme in die Organisationsentwicklung und ins Coaching. Mit Vorliebe nutzt er die Transaktionsanalyse und die Wirkmechanismen der Volksmärchen.

Weitere Artikel von Armin Ziesemer