Abgrenzung

Wer den ganzen Tag hektisch arbeitet, kann auch abends nicht abschalten

Mitarbeitende, die vor lauter Aktivismus nicht mehr zur Ruhe kommen, leisten sich und ihrem Unternehmen einen Bärendienst. Wer hingegen während der Arbeit immer wieder kurz den Mut zum Nichtstun aufbringt und bewusst abschaltet, lebt gesünder und ist innovativer. Untersuchungen zum Nutzen von Mikropausen konnten dies deutlich belegen.

Gemäss einer Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) von 2000 verliert die Schweizer Wirtschaft jährlich 4,2 Milliarden Franken aufgrund negativer Auswirkungen von Stress am Arbeitsplatz. Dieser Betrag dürfte heute – bedingt durch Krise, Teuerung und nochmals angestiegenen Leistungsdruck – noch um einiges höher liegen. Die im Zusammenhang mit Stress am Arbeitsplatz häufig genannten «Stressoren» sind: eine schlechte Arbeitsorganisation, der zunehmende Leistungsdruck, Druck durch Arbeitskollegen oder Vorgesetzte. Weniger Beachtung findet die Tatsache, dass viele Menschen heute auch ohne unmittelbaren äusseren Druck gestresst sind und nicht mehr «abschalten» können. Sie leben unter dem unausgesprochenen Diktat, dauernd aktiv sein zu müssen, und erlauben sich keine Pausen mehr.

Balance zwischen Ruhe und Aktivität

Um gesund zu bleiben, müssen wir aber die Balance halten zwischen Aktivität und Ruhe, Spannung und Entspannung. Und zwar bereits während der Arbeit. Den ganzen Tag Hektik und dann am Abend die Seele baumeln lassen, das gelingt den wenigsten Menschen. Wer acht oder zehn Stunden in einem permanenten Ausnahmezustand war, kann am Abend nicht einfach den Schalter umlegen und entspannen. Fitness und Bewegung nach getaner Arbeit sind richtig und wichtig, um gesund zu bleiben. Wenn man sich aber nicht bereits während der Arbeit immer wieder kurze Pausen gönnt, nützt auch der Sport am Feierabend oder Wochenende nichts – zumal viele Menschen ihr Fitnessprogramm ähnlich atemlos absolvieren wie ihr Arbeitspensum. Das musste beispielsweise vor gut anderthalb Jahren auch Bundesrat Merz erfahren, der trotz sportlichem Lebenswandel einen Kreislaufkollaps erlitt. Erholung während der Arbeit – wie soll das funktionieren? Wissenschaftliche Studien (1) belegen seit langem, dass wer regelmässig Kurzpausen, so genannte Mikropausen, macht, sich und seinem Unternehmen gleichermassen nützt.

Regelmässige, kurze Pausen erlauben dem Organismus, sich im Verlaufe eines Arbeitstages immer wieder zu regenerieren. Am besten, man probiert es einfach aus. Sie schliessen für eine Minute die Augen und spüren Ihr Gewicht auf dem Bürostuhl. Sie atmen dreimal tief aus, bevor Sie das Telefon abnehmen. Sie dehnen und strecken sich in Ihrem Bürosessel. Gähnen dabei vielleicht herzhaft. Sie lösen sich für einen Moment vom Bildschirm, legen die Handflächen auf Ihre Augen und schauen mit offenen Augen ins wohltuende Dunkel. Dadurch können sich die Augen von der permanenten Anstrengung am Bildschirm erholen. Mit solchen Mikropausen findet man (wieder) zu sich und bekommt einen tieferen Zugang zu seinen geistigen Ressourcen. Zur Anwendung gelangen Übungen zur Atemregulierung, zum Entspannen der Augen, Dehn- und Lockerungsübungen, Muskelentspannungsübungen oder mentale Entspannungstechniken. Mikropausen lassen sich auch in der beruflichen Weiterbildung sinnvoll einsetzen. Mit Mikropausen lösen sich Denkblockaden bei den Unterrichteten wieder auf, sie helfen gegen Konzentrationsschwächen und Abgelenktsein und helfen allgemein eine entspannte und angenehme Lernatmosphäre zu schaffen.

Mikropausen sind für alle möglich

Ich höre den Einwand, Mikropausen seien ja nur jenen möglich, die über ein eigenes Büro verfügen. Stimmt, es braucht ein bisschen Zivilcourage, um im Grossraumbüro vor den Augen aller anderen nichts zu tun – und sei es auch nur für 30 Sekunden. Es gibt allerdings auch Unternehmen wie IBM oder Axa Winterthur, die ihre Mitarbeitenden zu Mikropausen ermuntern, weil sie genau wissen, dass entspannte und wache Mitarbeitende bessere Leistungen erbringen. Mikropausen als Teil der Unternehmenskultur zu verankern, erfordert keinen grossen Aufwand, und es entstehen dabei auch keine hohen Kosten. Was es braucht, ist eine HR-Führung beziehungsweise eine Unternehmensleitung, die der Belegschaft signalisiert, dass Mikropausen eine gute Sache sind – im Sinne von: «Der CEO macht gerade seine Augenübungen, dann 
lehne ich mich jetzt auch mal kurz zurück.»

Quellen:

1   
Bereits 1985 belegten Laborstudien von Janaro und Bechtold, dass regelmässige Mikropausen die Arbeitsleistung erhöhen. Zwei weitere Studien von Henning et al. 1997 und McLean et al. 2001 bestätigten diesen Befund.
    
Eine geringere Fehlerzahl und positive Auswirkungen von Mikropausen auf das psychische Befinden stellten 
Kopardekar und Mital 1994 fest. 
Mehrere Studien belegen, dass regelmässige kurze Pausen Beschwerden der oberen Extremitäten, Augen und des Nackens zurückgehen lassen (Henning et al. 1989, Hanson et al. 1996, Green 1999, Galinsky et al. 2000).

Mikropausen bei Axa 
Winterthur

Der Versicherer hat für seine Mitarbeiter eine Online-Plattform geschaffen, auf der sie unter anderem Tipps für Mikropausen abrufen können. Dort lässt sich zum Beispiel auch eine automatische Erinnerungsfunktion einrichten, die Mitarbeiter regelmässig daran erinnert, dass eine Mikropause jetzt gut täte, und sie mit entsprechenden Tipps versorgt, wie die Mikropause gestaltet sein könnte. Die Palette reicht von Lockerungsübungen bis 
zur Aufforderung, Obst zu essen oder Wasser zu trinken.

 

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Claude Weill ist Coach in Zürich mit langjähriger Erfahrung in Körper- und Atemarbeit. Er bietet Einzel-Coaching an sowie Input-Referate und Workshops zur Stressbewältigung. www.weillbalance.ch

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