18.06.2015

Bundesgericht revidiert eigene Rechtsprechung zu Schmerzstörungen

Das Bundesgericht hat seine strenge Haltung zum Rentenanspruch bei Patienten mit Schmerzstörungen ohne erklärbare Ursache revidiert. Unter anderem Patienten mit Schleudertrauma, Schmerzstörungen oder Weichteilrheuma können damit wieder auf IV hoffen. Patientenvertreter und das BSV begrüssten das Urteil.

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Bern (sda). 2004 hatte das Bundesgericht noch entschieden, dass die Betroffenen in der Regel in ihrer Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigt seien. IV-Renten gab es danach nur noch in Ausnahmefällen. Nun entschieden die Richter, dass die Arbeitsfähigkeit der Betroffenen via ein «strukturiertes Beweisverfahren» vertieft abgeklärt werden müsse.

Ziel sei, das tatsächliche Leistungsvermögen «ergebnisoffen und einzelfallgerecht» zu bewerten, hiess es in einer Mitteilung. Das Gericht verlangt, dass die medizinischen Fachgesellschaften neue Leitlinien erlassen, in denen der «aktuelle medizinische Grundkonsens zum Ausdruck» komme.

Beweislast bleibt beim Patienten

Das neue Leiturteil des Bundesgerichts bedeutet nicht, dass nun jeder Mensch mit Schmerzen ohne erklärbare Ursache eine IV-Rente erhält. Es bedeutet lediglich, dass er Anspruch darauf hat, dass seine Arbeitsfähigkeit genauer als bisher abgeklärt wird.

Seine neue Rechtsprechung ändere denn auch «nichts an der gesetzlichen Voraussetzung, dass eine invalidisierende Erwerbsunfähigkeit nur dann vorliegen kann, wenn sie aus objektiver Sicht als unüberwindbar scheint». Die versicherte Person trage zudem nach wie vor die Beweislast.

«Unsinnige Diskriminierung beendet»

Die Behindertenorganisatorin Procap begrüsste das Ende der «unsinnigen und ungerechten Diskriminierung» einzelner Menschen mit Behinderung. Procap erwarte nun, dass für die Beurteilung ein faires Verfahren geschaffen werde und auch die Fälle aus den letzten Jahren wieder aufgerollt würden, bei denen Leistungen zu Unrecht vorenthalten worden seien.

Das Bundesgericht verweist in seinem Urteil explizit auf ein medizinisches Gutachten, das vom Anwalt Pierre Seidler in Auftrag gegeben worden war. Dieser sprach von einer «kleinen Revolution für die Opfer-Vertreter».

Denn bisher hätten sich die IV-Experten stets auf das Bundesgerichtsurteil von 2004 abgestützt, um die Abweisung einer Rente zu begründen. Mit dem neuen Urteil hätten sie eine grössere Freiheit bei der Beurteilung.

«Urteil schafft Klarheit»

Diese Einschätzung teilt Stefan Ritler, Vizedirektor und Leiter des Geschäftsfeldes IV im Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV). Es sei auch für sie ein gutes Urteil, weil es Klarheit schaffe und eine differenziertere Sicht auf die Fälle erlaube.

Während das BSV in seinen Abklärungen durch die Rechtsprechung früher gezwungen gewesen sei, «unklare Störungsbilder» von Anfang an als überwindbar zu beurteilen, könnten sie diese nun ergebnisoffen treffen. Das bedeute für sie eine Haltungsänderung, aber gleichzeitig auch eine Gleichstellung aller Krankheitsfälle.

Nur vom Psychiater begutachtet

Im konkreten Fall hat das Bundesgericht über den Fall einer sechsfachen Mutter geurteilt, deren Antrag auf IV abgelehnt worden war. Die Frau leidet unter anderem an Schmerzen an Rücken und Extremitäten, Schlafstörungen, Kraftlosigkeit und Niedergeschlagenheit.

Die IV-Stelle des Kantons Zug hatte den Fall abgeklärt und dabei lediglich ein psychiatrisches Gutachten eingeholt. Danach entschied sie, dass keine anspruchsbegründende Invalidität bestehe. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug stützte den Entscheid. Nun muss dass Verwaltungsgericht den Fall neu beurteilen. (Urteil 9C_492/2014 vom 3. Juni 2015)