Bern (sda). «Der Aufruf zu Widerstand hat in Frankreich Tradition», sagt Rudolf Strahm, Ökonom und ehemaliger Preisüberwacher. Auch der Basler Wirtschaftsprofessor George Sheldon spricht von einer Mentalitätsfrage: «Immer wenn es um Reformen geht, gehen in Frankreich alle auf die Strasse.»
Hinzu kommen die französischen Gewerkschaften, die mit harten Bandagen kämpfen. In Frankreich seien die Gewerkschaften militanter als in der Schweiz oder Deutschland, sagt der Soziologe Franz Schultheis von der Universität St. Gallen im Gespräch mit der Nachrichtenagentur sda. «In Frankreich mussten die Gewerkschaften sehr lange für ein modernes Arbeitsrecht kämpfen, entsprechend hart verteidigen sie es nun», erklärt er. Eine französische Besonderheit sei die aggressive Art, das Instrument des Streiks einzusetzen. «In Frankreich können fünf Mechaniker an der Endstation der Métro streiken und das halbe Netz lahmlegen.»
Schweiz und Frankreich als Antipoden
Gerade zwischen der Schweiz und Frankreich gibt es laut Schultheis grosse Unterschiede – die beiden Länder seien «quasi die Antipoden» in diesem Bereich. Das belegt auch eine Auswertung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW): Von 2005 bis 2014 ging in der Schweiz pro Jahr im Schnitt ein einziger Arbeitstag je 1000 Beschäftigte durch Streiks verloren; in Frankreich waren es 124 Tage.
Dass in der Schweiz weniger gestreikt wird als beispielsweise in Frankreich oder Italien, hängt laut Schultheis auch mit der konjunkturellen Entwicklung zusammen, aber nicht nur. In der Schweiz wirke das Trauma des Landesstreiks von 1918 nach, die Tradition der Sozialpartnerschaft werde hochgehalten. In Frankreich hingegen würden die Arbeitgeber als Feindbilder gesehen – nicht zu Unrecht, wie Schultheis meint: In Frankreich sei der Kapitalismus wilder, der Druck auf die Arbeitnehmer grösser.
Schweiz steht für Sozialpartnerschaft
Gute Sozialpartnerschaft ermögliche es in der Schweiz, Lösungen zu finden, sagt Thomas Geiser, Arbeitsrechtsexperte der Universität St.Gallen. Als Nachteil sieht er beim Schweizer System, dass die Gewerkschaften in gewissen Bereichen relativ schwach seien. So habe die Schweiz einen «sehr schwachen Kündigungsschutz» und sei bezüglich Mutterschaftsurlaub respektive Elternzeit relativ rückständig.
Dass es in Frankreich Proteste gegen die Arbeitsrechtsreform gibt, erstaunt Geiser nicht. «Es geht um eine ganz wesentliche Frage, die fast alle betrifft.» Gäbe es in der Schweiz grössere Reformen, würden diese auch Diskussionen auslösen, zeigt er sich überzeugt.
Schweiz akzeptiert Wandel
Klar ist: Die Schweizer Wirtschaft steht deutlich besser da als die französische. Der Sozialdemokrat Rudolf Strahm bezeichnet Frankreich als «Globalisierungsopfer». Die auf Massengüter ausgerichtete französische Wirtschaft sei heute nicht mehr konkurrenzfähig. Als Ursachen sieht Strahm auch das Bildungssystem und die hohe Akademikerrate.
Arbeitsökonom George Sheldon von der Universität Basel stellt einen gewissen «Starrsinn» fest. In Frankreich werde der strukturelle Wandel nicht akzeptiert, sagt er mit Verweis auf die Deindustrialisierung. In der Schweiz sei das anders – hier gebe es eine Bereitschaft, den Wandel anzunehmen. Die Schweiz sei indes auch in der komfortableren Situation: «Wenn irgendwo Arbeitsplätze verloren gehen, entstehen anderswo neue.»
Frankreich ist im Euro gefangen
Die weniger kompetitiven Länder hingegen seien «im Euro gefangen», sagt Sheldon. Vor der Einführung des Euro konnten diese Länder die Währung abwerten und so allfällige Probleme auf dem Arbeitsmarkt kaschieren. «So haben sie Reformen auf die lange Bank geschoben.» Nun, da dies nicht mehr möglich sei, steige der Reformdruck.
Um zu bestehen, müssten Länder wie Frankreich und Italien kompetitiver werden, sagt Sheldon. «Eigentlich müssten die Löhne und Preise sinken. Aber nominelle Lohnsenkungen bringt kaum ein Land durch – egal, ob die Gewerkschaften stark oder schwach sind.» In der Schweiz habe es dies letztmals vor hundert Jahren gegeben. Sheldon sieht daher schwarz für den Euro: «Das ist ein Traum.»