Im Gespräch

«Die verbreitete Haltung, Moral dürfe nicht belohnt werden, ist falsch»

In Schweizer Unternehmen wird Ethik noch zu wenig thematisiert, findet der Ethiker Markus Huppenbauer von der 
Universität Zürich. Darin sieht er nicht in erster Linie ein Problem für die Gesellschaft, sondern eine verpasste Chance 
für die Unternehmen.

Herr Huppenbauer, überall wird von Ethik gesprochen. Gleichzeitig liest man von skrupellosen Managern und einer Verrohung der Gesellschaft. Sind die Menschen schlechter geworden?

Markus Huppenbauer: Nein, die Menschen haben sich ethisch gesehen nicht verändert. Ich würde auch nicht von einer Ver-rohung der Gesellschaft sprechen. Früher gab es beispielsweise mehr Kriege als heute. Die erwähnte Wahrnehmung entsteht durch die hohe Medienpräsenz. Wenn heute ein Unternehmen in Bangladesh die Menschenrechte nicht respektiert, hören wir sofort davon. Zudem hat die Komplexität unserer Gesellschaft zugenommen. Wir sind als Individuen nicht mehr für alles in unserer nächsten Umgebung verantwortlich, sondern können uns in gewissen Bereichen sozusagen aus der Verantwortung ziehen, weil Versicherungen und der Staat als zuständig erklärt wurden.

Wie ist es bei den Unternehmen? Schieben die auch Verantwortung ab?

Das können sie sich in ethischen Belangen oft nicht erlauben. Grosse Unternehmen werden öffentlich an den Pranger gestellt, wenn sie beispielsweise von Menschenrechtsverletzungen profitieren. Kleine sind schnell bekannt im Dorf, wenn sie ihre Mitarbeiter schlecht behandeln.

Befürworten Sie also den vermehrten Ethik-Diskurs in der Gesellschaft?

Ja. Durch den Druck der Öffentlichkeit sind Unternehmen vermehrt gezwungen, sich ethisch korrekt zu verhalten. Auch ist es ein Wettbewerbsvorteil geworden und gut für die Reputation, wenn ein Unternehmen ethisch handelt. Fatal wäre es hingegen, wenn ein gewisser Überdruss entsteht und sich eine Haltung im Sinne von «Komm mir bloss nicht mit Ethik» entwickelt.

Was zeichnet ein ethisches Unternehmen aus? Wann ist ein Unternehmen ethisch?

Es braucht erstens moralische Integrität der Führungsverantwortlichen, also Ethical Leadership; dann muss zweitens mit den Stakeholdern ein Dialog auf Augenhöhe geführt werden, und es muss drittens ein systematisch integrierter Ansatz entwickelt werden. Es geht um Ethik-Kultur, die im ganzen Unternehmen etabliert wird. Es müssten vermehrt Anreize für ethisch korrektes Verhalten eingeführt werden. Wir wissen, dass Unternehmen oft auf die falschen Anreize gesetzt haben. Die verbreitete Haltung, Moral dürfe nicht belohnt werden, ist meines Erachtens falsch.

Markus Huppenbauer

ist Doktor der Philosophie und Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Dort leitet er den Universitären Forschungsschwerpunkt Ethik. Huppenbauer interessiert sich besonders für die Umsetzung ethischer Normen und Werte sowie für ethische 
Entscheidungsfindung in konkreten 
Kontexten wie beispielsweise Unternehmen. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des European Business Ethics Network Schweiz.

Wie nehmen Sie die Situation in der Schweizer Wirtschaft wahr? Sind unsere Unternehmen ethisch auf Kurs?

Grundsätzlich ist die Situation in der Schweiz nicht schlecht. Wir haben ja auch einen soliden Rechtsstaat mit Arbeitsrecht, Umweltrecht und so weiter. Genauer hinschauen muss man gegenwärtig beispielsweise bei den grossen Rohstofffirmen, die sich in der Schweiz angesiedelt haben. Da ist vieles noch nicht sehr transparent. In meiner Wahrnehmung sind die transnationalen Unternehmen aber häufig mehr sensibilisiert auf das Thema Ethik als kleine Unternehmen. Die Schweiz als KMU-Land hat da noch Potenzial. Nicht, was das ethische Verhalten selbst betrifft: Ich denke, die KMU in der Schweiz sind im Schnitt gut unterwegs. Aber Ethik ist für sie nur selten ein explizites Thema, und bei ethischen Fragen wird häufig legalistisch argumentiert. Damit verschenken sie eine Chance.

Wie meinen Sie das?

Mein Standardbeispiel ist die Stadler Rail von Peter Spuhler. Es wurde öffentlich diskutiert, ob das Unternehmen Züge nach Weissrussland, in ein Land mit einem diktatorischen Präsidenten also, liefern darf. Spuhler hat argumentiert, dass sein Unternehmen rechtlich nichts Falsches mache. Weder die Schweiz noch die EU hätten einen Boykott gegen das Land verhängt. Ich gebe ihm Recht. Als Ethiker frage ich mich aber: Reicht das? Die ethische Dimension in der Diskussion hat mir gefehlt. Denn ethisch war das Geschäft aus meiner Sicht durchaus in Ordnung, weil Stadler bei dem Geschäft nicht von Menschenrechtsverletzungen profitiert hat und die Züge der Bevölkerung zugutekommen. Das hätte aber viel aktiver kommuniziert werden können.

Zeigt das Beispiel nicht, dass sich Wirtschaft und Ethik oft gegenüberstehen?

Nein, gerade nicht! Wirtschaften ist vielmehr selbst ein ethischer Wert. Die Wirtschaft stellt Güter und Dienstleistungen für Menschen her, verschafft den Menschen die Einkommen, um Güter und Dienstleistungen zu erwerben, und generiert zudem Steuern, mit denen der Staat dann etwa unsere Infrastruktur finanziert. Natürlich gibt es Konflikte zwischen Ethik und Wirtschaft, wenn beispielsweise in Wertschöpfungsketten Menschenrechte verletzt werden. Aber diese Konflikte sind nicht der Regelfall. Und dann gibt es auch Fälle, bei denen gar nicht so klar ist, was die Ethik sagen kann. Zum Beispiel stellt sich die Frage, wann ein Lohn wirklich fair ist.

Wann ist er denn aus ethischer Sicht fair?

Was ein faires Gehalt ist, muss primär im Dialog der Betroffenen definiert werden. Es gibt keine allgemein anerkannten ethischen Kriterien, die es erlauben, etwa eine generelle Lohnobergrenze zu definieren. Insofern macht eine gesetzlich festgelegte, für alle Branchen geltende Lohnobergrenze keinen Sinn. Unternehmen müssen aber über Fragen der Löhne einen offenen Diskurs führen, auch gegen aussen und mit Einbezug aller Stakeholder. Im Zusammenhang mit der so genannten Abzocker-Initiative könnte man etwa fragen, warum nur die Aktionäre über die Löhne der Führungsverantwortlichen mitreden sollen. Warum nicht auch eine Vertretung der Mitarbeitenden?

Wer ist in einem Unternehmen verantwortlich für ethisches Handeln?

Primär die Eigentümer, der Verwaltungsrat und das Topmanagement. Hier gibt es allerdings Konfliktpotenzial aufgrund der Veränderungen der Eigentümerstrukturen in den vergangenen Jahrzehnten. Shareholder und Investoren sind heute oft auf den kurzfristigen Gewinn fixiert. Der Einfluss von Patrons im klassischen Sinn, die nachhaltig dachten und sich mit dem Unternehmen identifizierten, hat abgenommen. Aus ethischer Sicht ist das nicht unproblematisch.

Hat eine Einzelperson, ein Patron, ein grösseres Verantwortungsgefühl?

Für eine Studie über Ethical Leadership haben wir Führungsverantwortliche gesucht, die als ethische Leader wahrgenommen werden. Auffallend war, dass von 17, mit denen wir schliesslich gesprochen haben, nur einer ein börsenkotiertes Unternehmen führte. Zudem waren alle diese Leader entweder selber Inhaber oder standen dem Eigentümer sehr nahe. Zwei Dinge hatten sie alle gemeinsam: Erstens riskieren alle, für ethisch richtiges Verhalten weniger Gewinn einzufahren. Zweitens sind viele bereit, auch persönlich mit einem kleineren Salär vorliebzunehmen, als es ihre Position im Vergleich mit anderen erlauben würde.

Kann man ethisches Verhalten lernen?

In unserer Studie hat sich gezeigt, dass Rollenmodelle für alle Ethical Leaders sehr wichtig sind. Das heisst, sie wollen Vorbild sein und haben auch selbst Vorbilder. Das lässt darauf schliessen, dass man Ethical Leadership nicht abstrakt lernen kann. Entsprechende Lernprozesse finden aber vor allem in jungen Jahren statt. Wer mal ein «Halunke» ist, aus dem wird nur schwer ein ethisch guter Leader. Gewisse Tugenden wie Transparenz, Loyalität und Ehrlichkeit muss man also in ein Unternehmen mitbringen. Was man aber auch in späteren Jahren lernen kann, ist der Umgang mit einem ethischen Problem, es als solches zu erkennen und ethisch zu argumentieren. Die dazu nötigen fachlichen Kompetenzen kann man erlernen (siehe Buchtipp, Anm. d. Red.).

Welche Rolle spielt das HR für ethisches Verhalten in einem Unternehmen?

Es ist wichtig, dass bei der Personalauswahl auch die ethische Kompetenz eines zukünftigen Mitarbeiters geprüft wird. Vor allem bei der Selektion von CEOs bin ich nicht sicher, wie stark bisher auf moralische Integrität geachtet wurde. Aber ich glaube, es findet ein Umdenken statt. Die Forschung arbeitet zudem daran, Assessment-Instrumente zu entwickeln, um auch die ethischen Werte und Tugenden einer Person zu messen.

Buchtipp

Barbara Bleisch, Markus Huppenbauer: Ethische Entscheidungsfindung, Ein Handbuch für die 
Praxis. Versus Verlag, 2011, 224 Seiten, CHF 39.–

 

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