Im Gespräch mit Astrophysiker Thomas Zurbuchen

«Eine starke Kultur gibt uns die Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen»

Thomas Zurbuchen, der langjährige Forschungschef der NASA und heutige Leiter von ETH Zürich Space, hält am HR FESTIVAL europe eine Keynote. Im Interview gibt er Einblick in seinen Führungsstil und seine Art der Teamentwicklung sowie wertvolle Tipps für HR-Professionals.

HR Today: Herr Zurbuchen, Sie waren von 2016 bis 2022 wissenschaftlicher Leiter der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA. Was tun Sie heute?

Thomas Zurbuchen: Ich arbeite Teilzeit als Leiter von ETH Zürich Space. In dieser Rolle bin ich intensiv damit beschäftigt, einen neuen Masterstudiengang in Weltraumwissenschaft und -technologie zu entwickeln. Dieses Projekt schreitet sehr schnell voran – wir werden später im Jahr die erste Klasse starten. Parallel dazu arbeite ich mit unserem Team daran, die Weltraumforschung zu erweitern und die Kooperation mit Unternehmen aus der Raumfahrtbranche in der Schweiz und in Europa zu stärken. Diese drei Bereiche bilden meine Hauptaufgaben an der ETH. Zudem bin ich als Speaker und Berater für verschiedene Unternehmen tätig.

Weshalb haben Sie die NASA verlassen?

Zurbuchen: Meine Zeit als wissenschaftlicher Leiter der NASA war die längste, die jemals jemand in dieser Position verbracht hat. Es ist eine herausfordernde Rolle, zudem hatte ich das Gefühl, dass ich all das erreicht hatte, was ich mir vorgenommen hatte und was von mir erwartet wurde. Mit der Zeit stellte ich fest, dass ich nicht mehr viel Neues lernte. In einer solchen Situation nur mitzuschwimmen, ist weder für mich noch für die Organisation von Vorteil. Auch bin ich der Überzeugung, dass gute Führung nicht nur bedeutet, zur richtigen Zeit den richtigen Posten zu bekleiden, sondern diesen zum richtigen Zeitpunkt auch wieder zu verlassen. Dieser war für mich mit der erfolgreichen Inbetriebnahme des James-Webb-Teleskops gekommen.

Astrophysiker und Führungsvorbild

Der schweizerisch-US-amerikanische Astrophy­siker Thomas Zurbuchen, geboren 1968 in Heiligenschwendi, war von 2016 bis 2022 Wissenschaftsdirektor der US-Raumfahrtbehörde NASA. Dort war er verantwortlich für insgesamt 91 Missionen, unter anderem das James-Webb-Teleskop oder die Mars-Rover-Missionen von Perseverance und Ingenuity. Zuvor arbeitete Zurbuchen als Professor für Weltraumforschung und Raumfahrttechnik an der University of Michigan. Seit vergangenem August leitet er als Professor für Weltraumwissenschaft und -technologie die Initiative ETH Zürich Space. Zudem ist er mit seinem Team daran, den schweizweit ersten Master-Studiengang in Weltraumwissenschaft und -technologie einzuführen: «Ich möchte einen der weltweit besten interdisziplinären Master-Studiengänge in Weltraumwissenschaft und -technologie lancieren, um die nächste Generation von Raumfahrtführungskräften auszubilden», kündigte Zurbuchen anlässlich seines Antritts an. ethz.ch

 

Wie gingen Sie mit dem Druck um, der mit der Leitung von hochkomplexen und risikoreichen Weltraummissionen verbunden ist?

Zurbuchen: Um effektiv mit Druck umgehen zu können, ist es entscheidend, alle Lebensbereiche sorgfältig zu planen und in den Kalender einzutragen – also nicht nur die Arbeit, die vom Volumen und vom Druck her immens ist, sondern auch alle anderen Aspekte des Lebens. Beispielsweise sollte die Zeit mit der Familie fest im Kalender verankert sein und nicht dem Zufall überlassen werden. Ebenso ist es wichtig, Zeiten für die körperliche Betätigung, wie das Training im Kraftraum oder das Radfahren, fest einzuplanen. Das Leben ist kein 100-Meter-Sprint, sondern ein Marathon. Wie dort geht es darum, das richtige Tempo zu finden, um alles bewältigen zu können und langfristig erfolgreich zu sein.

In der Theorie klingt das gut. Aber ist Ihnen das auch gelungen?

Zurbuchen: Es gab durchaus Zeiten, in denen Krisen auftraten und die geplanten Freiräume plötzlich nicht mehr vorhanden waren. In solchen Momenten ist es wichtig, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Meine Mitarbeitenden, die meinen Kalender verwalteten, wussten um meine Prioritäten und dass ich zu blockierten Zeiten nicht arbeiten würde. Wenn es wirklich einmal nicht anders ging, nahm ich als Ersatz einfach einen Tag frei. Die Konsequenzen davon waren weniger gravierend, als wenn ich mich so sehr überanstrengt hätte, dass ich plötzlich nicht mehr hätte arbeiten können. Es ist entscheidend, Prioritäten zu setzen und sich bewusst Zeiten zu nehmen, in denen man nicht erreichbar ist.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?

Zurbuchen: Mein Führungsstil ist geprägt durch die Bildung von interdisziplinären Teams, die sich aus Personen mit unterschiedlichen Hintergründen, Fähigkeiten und Stärken zusammensetzen. Das Ziel hierbei ist, Möglichkeiten zu schaffen, die zu Beginn vielleicht nicht offensichtlich sind oder an die die Teammitglieder selbst nicht glauben. Ein Beispiel hierfür ist das James-Webb-Teleskop: Dieses Projekt stand aus verschiedenen Gründen kurz vor dem Scheitern, insbesondere weil das Kernteam, das für die wichtigsten Aufgaben verantwortlich war, nicht effektiv zusammenarbeitete. Durch die Förderung von Vielfalt und interdisziplinärer Zusammenarbeit strebe ich danach, solche Herausforderungen zu überwinden und innovative Lösungen zu entwickeln.

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«Veränderungen sind kein Schalter, den man einfach umlegen kann, sondern ein Prozess, der durchlaufen wird.»

 

 

 

 

Sie hatten an der University of Michigan Initiativen zur Förderung des Unternehmertums eingeführt. Wie haben diese Ihre Führungsperspektive beeinflusst?

Zurbuchen: Die Erfahrungen, die ich an der University of Michigan im Bereich Unternehmertum sammelte, waren mitentscheidend dafür, dass ich für die NASA attraktiv wurde. Ich lernte dort wichtige Lektionen, die Akademiker normalerweise nicht oder erst sehr spät erlernen. Die Initiativen hatten drei zentrale Motivationen: Erstens, dass den Studierenden Wissen über Unternehmertum vermittelt wird, damit diese ihr Potenzial als Unternehmer erkennen und die Werkzeuge erhalten, um idealerweise schon während des Studiums Erfahrungen in der Wirtschaft sammeln zu können. Zweitens, dass die Nutzung der Forschungsergebnisse verbessert wird. Obwohl die University of Michigan zu den grössten Forschungseinrichtungen der USA zählt, gingen aus ihr nur wenige Start-ups hervor und es wurde nur ein relativ kleiner Teil der Forschungsergebnisse praktisch angewendet. Wir wollten dies ändern, nicht um der Universität zu helfen, sondern um sicherzustellen, dass die Forschung in die Wirtschaft fliesst. Drittens wollten wir herausfinden, wie die Universität die lokale Wirtschaft unterstützen kann, damit diese zusätzliche Arbeitsplätze schaffen kann. Beispielsweise haben wir lokale Arbeitsstellen für Studierende geschaffen und Events mit lokalen Firmen organisiert, um diese mit Absolventinnen und Absolventen zu vernetzen. Ich war an der Entwicklung von Programmen in all diesen Bereichen beteiligt.

Wie haben Sie eine starke Organisationskultur bei der NASA gefördert?

Zurbuchen: Kultur ist ein Aspekt, bei dem Führung eine enorm wichtige Rolle spielt. Sie gleicht einer Schere, die sich sowohl von oben als auch von unten zusammenfügt. Sie liegt aber klar in der Verantwortung der Führungskräfte, die definieren müssen, welche Kultur gelebt und wie sie gefördert wird. Kultur besteht nicht einfach nur aus Worten oder Powerpoint-Slides, sondern aus tatsächlichen Verhaltensweisen. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Ethik: Wir strebten bei der NASA immer danach, das Richtige zu tun, selbst wenn es kurzfristig positive Konsequenzen hätte haben können, wenn ethische Grenzen überschritten werden. Das vermieden wir konsequent. Kultur ist aber etwas, das man nicht einfach einmal festlegt und dann vergisst. Man muss kontinuierlich an ihr arbeiten und viel über sie sprechen – sogar so viel, dass es fast langweilig wird. Nur so kann man sicherstellen, dass man wirklich genug tut. Denn eine starke Kultur gibt uns die Fähigkeit, schwierige Probleme zu lösen, insbesondere indem sie sicherstellt, dass die richtigen Entscheidungen getroffen werden, auch wenn die Führungsperson gerade nicht da ist. Das ist es, was eine wirkungsvolle Kultur ausmacht.

War der Handlungsbedarf diesbezüglich bei der NASA gross?

Zurbuchen: Als ich bei der NASA anfing, gab es bereits viele positive Aspekte in ihrer Kultur. Die Mitarbeitenden sind sehr motiviert und fokussiert auf die Sinnhaftigkeit und Vision ihrer Arbeit. Viele erinnern an Gläubige, die mit grosser Hingabe an ihren Projekten arbeiteten. Hier musste ich also nicht viel ändern. Meine Aufgabe bestand jedoch darin, dafür zu sorgen, dass die Mitarbeitenden mehr miteinander kommunizieren, und gleichzeitig darauf achten, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Exzellenzen nicht überschätzen. Dieses Phänomen tritt häufig auf, auch in guten Organisationen. Es ist dabei aber nicht zielführend, ihnen einfach zu sagen, dass sie nicht so gut sind, wie sie denken. Stattdessen ist es wichtig, kritische Fragen zu stellen, wie zum Beispiel, ob wir wirklich so gut sind, wie wir sein könnten. Und es ist notwendig, ihnen aufzuzeigen, wo wir noch nicht gut genug sind.

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Astrophysiker der NASA und ETH Professor Thomas Zurbuchen hält eine Keynote vor einem Hintergrund mit Bildern der Milchstrasse.

«Es ist entscheidend, alle Lebensbereiche sorgfältig zu planen und in den Kalender einzutragen»: So geht Thomas Zurbuchen als Führungsverantwortlicher mit Druck um. (Bild: zVg)

 

Die NASA war einmal das Mass aller Dinge in der Raumfahrt. Doch dann wurde die private Raumfahrt immer wichtiger. Wie wirkte sich das auf die Kultur der Agentur aus?

Zurbuchen: Es war von entscheidender Bedeutung, dass die NASA von sich aus auf die Veränderungen reagiert hat, die durch das Aufkommen der privaten Raumfahrt entstanden sind. Es gibt grundsätzlich drei Arten, wie man mit Veränderungen umgehen kann: aktiv gegen sie ankämpfen, sie ignorieren oder sich darauf konzentrieren, das Beste daraus zu machen. Die Agentur hat alle diese Phasen durchlaufen.Tatsächlich ist die Privatindustrie ein Produkt der Art und Weise, wie die NASA geführt wurde. Es ist nicht so, dass die private Raumfahrt einfach so entstanden ist und die NASA sich nicht anpassen konnte. Um ein Beispiel zu nennen: SpaceX hätte ohne die finanzielle Unterstützung der NASA nicht überleben können. Die Entscheidung der Agentur, kommerzielle Unternehmen mit der Versorgung der Internationalen Raumstation ISS zu beauftragen, war eine Führungsentscheidung. Solche Entscheidungen durch das gesamte System zu bringen, ist ein andauernder Prozess. Schliesslich sind Veränderungen kein Schalter, den man einfach umlegen kann, sondern ein Prozess, der durchlaufen wird. Ehrlich gesagt, einige der langjährigen Mitarbeitenden konnten nicht einfach umgestellt werden. Wir mussten für sie Aufgaben finden, bei denen sie nicht im Weg stehen und der Agentur am meisten helfen können. Die Privatindustrie ist heute ein wichtiger Zweig der Raumfahrt, und vieles kann die NASA heute nur in Zusammenarbeit mit der Privatindustrie bewältigen.

Wie ist es Ihnen gelungen, eine Atmosphäre zu kultivieren, die Innovation und wissenschaftlichen Fortschritt fördert?

Zurbuchen: Um ein Umfeld zu schaffen, in dem Innovation und wissenschaftlicher Fortschritt gedeihen können, sind zwei Dinge entscheidend: erstens das konsequente Sprechen über Ziele. Innovation und Führung sind bei der NASA eng miteinander verbunden – ohne Innovation fehlt es an Führung. Das bedeutet, wenn wir immer wieder dasselbe tun, wie wir es schon kennen, dann besteht ein Führungsvakuum. Ein Beispiel dafür ist meine Regel, dass jeder Satellit eine neue Technologie enthalten muss. Ist das nicht der Fall, möchte ich nichts mit dem Projekt zu tun haben. Innovation bedeutet manchmal auch, bestimmte Dinge nicht mehr zuzulassen. Stattdessen muss man Werte setzen, die Innovation fördern. Der zweite wichtige Punkt ist die Frage, wie hoch das Risiko ist, das eingegangen werden darf. Die Antwort darauf kann niemals null sein. Zwar ist es einfach, die Frage zu stellen, aber die Antwort zu finden, ist komplex. Es ist nicht möglich, ein Dokument zu erstellen, das Risiken fest verankert, aber man kann definieren, wie man mit Risiken umgeht. Oft ist es für die Menschen schwierig, Risiken in sich verändernden Umgebungen einzuschätzen, da emotionale Aspekte im Weg stehen. Die Herausforderung besteht darin, eine Umgebung zu schaffen, die Innovation nicht nur als gut oder sogar essenziell anerkennt, sondern auch diejenigen unterstützt, die innovativ arbeiten. Wenn dabei mal etwas schiefgeht, ist das auch in Ordnung, solange es nicht aufgrund von Nachlässigkeit oder offensichtlichen Fehlentscheidungen geschieht. Stattdessen geht es darum, Raum für Innovation zu schaffen und die Menschen darin zu unterstützen, tatsächlich Neues zu wagen, auch wenn dies nicht frei von Risiken ist.

War es einfach, diese Denkweise bei der NASA zu implementieren? Und wie gelang Ihnen dies?

Zurbuchen: Das war nicht einfach und erforderte viel Kampfgeist. Es gibt verschiedene Ansätze, wie grosse Organisationen wie die NASA verändert werden können. Einer davon ist es zu versuchen, die gesamte Organisation kulturell zu ändern, was eine wichtige und notwendige Arbeit ist. Eine andere Methode besteht darin, eine neue Kultur neben der alten aufzubauen und wachsen zu lassen, wodurch der alten Kultur gewissermassen der Sauerstoff entzogen wird. Es gibt viele Beispiele, wo das gelungen ist, etwa in der Schweizer Uhrenindustrie, in der eine neue Kultur entstand und die alte Kultur zu einem Nischenprodukt wurde, das aber für bestimmte Zwecke genutzt wird. Beide Ansätze sind wichtig: die bestehende Kultur zu ändern und gleichzeitig eine neue zu schaffen. In der Regel ist es aber wirkungsvoller, eine neue Kultur zu etablieren und wachsen zu lassen, als zu versuchen, die alte Kultur eines riesigen Systems zu ändern. Das ist unglaublich schwierig und dauert sehr lange – es gibt immer irgendwo einzelne Menschen oder ganze Abteilungen, die versuchen, Dinge so zu tun, wie man es eigentlich nicht mehr machen will. Es ist aufwendig, dem nachzugehen und herauszufinden, wo genau das passiert. Die NASA hatte und hat immer noch Schwierigkeiten damit, beispielsweise im Umgang mit dem Wunsch, schneller zu arbeiten.

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«Manchmal ist der Erfolg auch einfach eine Frage des Glücks. Und wenn jemand korrekt handelte und einfach kein Glück hatte, sollte man diese Person nicht bestrafen.»

 

 

 

 

Die Schweiz gilt zurückhaltender in Sachen Risiko als die USA. Wie haben Sie das erlebt?

Zurbuchen: Es ist wichtig zu erkennen, dass die USA nicht überall gleich sind, und dasselbe gilt auch für die Schweiz. Es gibt viele Bereiche, in denen sich die beiden Länder sehr ähnlich sind. Ich habe inzwischen viele Schweizer Unternehmen kennengelernt, die sich in ihrer Herangehensweise kaum von amerikanischen unterscheiden, und umgekehrt. In bestimmten Bereichen sind die USA weltweit führend im Umgang mit Risiken, besonders im Silicon Valley, aber auch in anderen Regionen. Dort wurde gezielt eine Kultur gefördert, die Misserfolge wertschätzt, weil sie vor allem als Lernchance verstanden werden. In der Schweiz habe ich ebenfalls diverse Menschen getroffen, die bedeutende Arbeit leisten und dabei nicht immer erfolgreich sind. Entscheidend ist, wie mit diesen Misserfolgen umgegangen wird – ob sie bestraft oder als Teil des Innovationsprozesses akzeptiert werden. Wenn man nicht lernt, mit Misserfolgen umzugehen, wird es schwierig, das Beste aus den Leuten herauszuholen.

Wie gehen Sie persönlich mit Misserfolgen um?

Zurbuchen: Die Art und Weise, wie man mit Misserfolgen umgeht, ist oft wichtiger als der Umgang mit Erfolgen. Alle beobachten, wie man Misserfolge handhabt, und ob man es mit dem, was man sagt, wirklich ernst meint. Wenn die Reaktion auf Fehler halbherzig ist, merken das die Mitarbeitenden sofort. Entscheidend ist zu verstehen, aus welchen Gründen ein Misserfolg auftritt. Manchmal geschieht einfach ein Fehler. Es ist dann leicht, den Verursacher zu suchen und ihn zu bestrafen. Klar, wenn Fahrlässigkeit im Spiel war, ist das angemessen, aber wenn jemand nach bestem Wissen und Gewissen handelte, dann ist es eben einfach ein Fehler. Man kann nicht immer alles kontrollieren. Manchmal ist der Erfolg auch einfach eine Frage des Glücks. Und wenn jemand korrekt handelte und einfach kein Glück hatte, sollte man diese Person nicht bestrafen. Wichtig ist, Fehler frühzeitig zu erkennen und die Konsequenzen von Fehlern zu identifizieren, bevor sie eintreten. Man sollte Trends, wie wiederholte Testfehler, beobachten und die Ursachen für deren Zunahme finden. Indem man Fehler findet und behebt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs. Übrigens: Die meisten Fehler, die ich beobachtet habe, sind Kultur- und Führungsfehler. Es ist sehr einfach, eine Organisation zu schaffen, in der niemand mehr etwas wagt, weil man Angst vor Bestrafung hat – aber das geht auf Kosten der Innovationskraft. Meiner Auffassung nach haben Führungskräfte klar die Aufgabe, eine Kultur zu schaffen, die Erfolge ermöglicht. Hierfür müssen sie aber erkennen, dass die Kultur in ihrer eigenen Verantwortung liegt.

Wie haben Sie als NASA-Wissenschaftsdirektor die Herausforderungen in Bezug auf die interdisziplinäre Zusammenarbeit gemeistert?

Zurbuchen: Hierbei spielt die Grösse und Komplexität der jeweiligen Herausforderung eine entscheidende Rolle. Grosse und schwierige Probleme, wie die Entwicklung eines neuen Medikaments oder die Durchführung einer Weltraummission, sind per definitionem interdisziplinär, da keine einzelne Disziplin alle notwendigen Informationen besitzt. Um Interdisziplinarität erfolgreich zu fördern, ist es wichtig zu verstehen, inwiefern sie für den Erfolg eines Projekts erforderlich ist. Ich habe schnell erkannt, dass man mit interdisziplinären Teams viel stärker ist und schneller vorankommt. Anfangs können solche Teams zwar langsamer sein, weil sie sich erst kennenlernen und zusammenfinden müssen. Sobald das Team aber gut zusammengestellt ist und aus Mitgliedern mit verschiedenen Stärken besteht, beschleunigt sich der Prozess deutlich. Innovation und vielfältiges Denken – also die Fähigkeit, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten – sind eng miteinander verknüpft. Forschungen zeigen, dass die Innovationskapazität stark von der Vielfalt der Denkweisen in einem Team abhängt. Es gibt natürlich Herausforderungen in Teams, die man erkennen und adressieren muss. Wenn ich ein Team traf, versuchte ich immer herauszufinden, wie es funktioniert, ähnlich wie bei einem technischen System. Man muss verstehen, wer der «Motor» ist, wer die Motivation bringt, wie Entscheidungen getroffen werden, welche Schwächen es gibt und wie man dem Team helfen kann. Es geht darum, das Team als System zu begreifen und zu analysieren, wie man es am besten unterstützen kann.

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Astrophysiker der NASA und ETH Professor Thomas Zurbuchen steht im Anzug mit einer violetten Krawatte auf der Bühne. Im Hintergrund steht der Spruch "Explore Moon/Mars"

Gemäss Zurbuchen liefern Quereinsteigende neue Impulse und sind somit ein wichtiger Bestandteil des Teams. (Bild: zVg)

 

Die NASA ist eine riesige Organisation. Wie bleibt man da als Chef mit allen Teams in Kontakt?

Zurbuchen: Ich nahm an möglichst vielen Teammeetings teil, besonders an den entscheidenden. Schliesslich lagen die grundlegenden Entscheidungen, wie zum Beispiel darüber, ob ein Satellit weitergebaut wird, bei mir. Es war wichtig, dass die Teams sich darüber im Klaren waren, wie ich denke und was meine Ansichten sind. Gleichzeitig musste ich verstehen, wie sie funktionieren, um sie führen zu können. Eine meiner Sorgen beim Verlassen der NASA war, ob die Lektionen und Erkenntnisse, die ich dort vermittelt hatte, bestehen bleiben oder vergessen werden. Aber nach einem Gespräch mit meiner Nachfolgerin bin ich zuversichtlich, dass sie in ähnlicher Weise weitermacht. Es geht darum, Teams so aufzubauen, dass sie die vermittelten Werte verstehen und adaptieren. In meinen Gesprächen mit den Teams habe ich solche Themen diskutiert und zudem versucht, Personen einzustellen, die diese Werte verstehen und im System verankern können. Diese Diskussionen waren kein Zufall, sondern ein Führungsinstrument.

Wie haben Sie Talente entdeckt und gefördert?

Zurbuchen: Es ist wichtig, nicht nur auf die offensichtlichen Leistungsträger zu achten. Oft kommen in einem Team immer die gleichen Personen mit Lösungen. Die Frage ist jedoch, ob es wirklich immer dieselbe Person sein muss. Ich initiierte deshalb gezielt Nachwuchsförderungsprojekte, in denen sich die Leute in schwierigen Projekten und Führungsaufgaben beweisen konnten. So konnte ich beurteilen, wie gut sie wirklich sind – manchmal sind sie sogar besser, als sie selbst glauben. Ein weiterer wesentlicher Aspekt der Führung ist, eine Liste der Personen zu haben, die für das Unternehmen unverzichtbar sind und gefördert werden müssen – seien das 20 Prozent der Belegschaft oder eine bestimmte Anzahl Namen. Es ist entscheidend zu wissen, wer diese Personen sind, um sie gezielt zu fördern, indem man ihnen anspruchsvolle Aufgaben gibt, an denen sie wachsen können. Es ist wichtig, dass dies die ganze Organisation so praktiziert: Sie muss wissen, wer ihre besten Leute sind, und wenn es Lücken gibt, wo man diese findet und wie man sie ins eigene Unternehmen holt.

Waren Quereinsteigende für Sie auch ein Thema?

Zurbuchen: Quereinsteigende waren nicht nur zufällig ein Thema, sondern wurden ganz bewusst in Betracht gezogen. Bei sich ändernden Kulturen und Umfeldern, in denen neue Akteure mit neuen Wertesystemen auftreten, ist es äusserst wichtig, Personen einzubeziehen, die «mehrsprachig» sind – also die sowohl die Bedeutung als auch die Kultur der alten und der neuen Welt verstehen. Sehr oft kommen Quereinsteigende aus einer anderen Kultur. Das kann etwa eine Person sein, die ein Start-up gegründet und verkauft hatte und dann für eine begrenzte Zeit in die Organisation kommt, um ein Netzwerk aufzubauen und Erfahrungen zu sammeln, bevor sie möglicherweise wieder geht und eine neue Firma gründet. Ich stellte ganz bewusst Leute ein, die die neue Kultur mit der alten verbinden konnten. Entsprechend sind Quereinsteigende nicht nur akzeptabel, sondern ein wichtiger Bestandteil des Teams.

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«Unser grösstes Problem war die Bürokratie, insbesondere im Einstellungsprozess.»

 

 

 

 

Wie findet man fähige und passende Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger?

Zurbuchen: Das kann manchmal schwierig sein, denn es erfordert ein gegenseitiges Kennenlernen. Teilweise trifft man potenzielle Kandidatinnen und Kandidaten auf Konferenzen oder man entdeckt talentierte Personen bei Firmenbesuchen. Ich spreche dann meist mit den Chefs dieser Firmen und erkläre ihnen, dass ich Quereinsteiger benötige und Personen suche, die ich für eine gewisse Zeit ausleihen kann. Wichtig ist dabei, dass es zu keinen Interessenskonflikten kommt, die man dem Steuerzahler nicht erklären kann – es muss der Person klar sein, dass sie nicht gleichzeitig für ihr altes Unternehmen arbeitet. Ethik ist in all diesen Prozessen immer von grosser Bedeutung. Bei der Qualität der Mitarbeitenden ist es ähnlich wie bei der Unternehmenskultur: Man kann nicht einfach einen Schalter umlegen, sondern muss kontinuierlich dranbleiben, den Status überprüfen und auch etwas experimentieren.

Welchen Rat haben Sie für HR-Professionals, die Führungskräfte in technisch anspruchsvollen und innovativen Umgebungen entwickeln müssen?

Zurbuchen: Hier gibt es zwei entscheidende Aspekte. Erstens müssen die HR-Professionals verstehen, welche Ziele das Unternehmen verfolgt und wie diese Ziele auf die individuellen Karrieren der Mitarbeitenden übertragen werden können. Hierbei ist es wichtig, dass sie die Bandbreite zwischen konservativem Vorgehen und voller Innovationsbereitschaft berücksichtigen und verstehen, wo sich das Unternehmen in diesem Spektrum befindet. Zweitens müssen HR-Professionals sicherstellen, dass sie die Werkzeuge und Ressourcen, die ihnen zur Verfügung stehen, effektiv nutzen. Diese Werkzeuge sind entscheidend, um die Mitarbeitenden bei der Erreichung ihrer Ziele zu unterstützen. Dies schliesst finanzielle Aspekte ebenso ein wie den Aufbau von Mentoren-Netzwerken und die Identifizierung von Lücken, in denen die Mitarbeitenden Unterstützung benötigen. Darüber hinaus sollten HR-Professionals eine aktive Rolle in der Führungsebene einnehmen, indem sie gegen oben die Bedürfnisse der Mitarbeitenden vertreten und gegen unten aufzeigen, wie die verfügbaren Ressourcen genutzt werden können, um die Unternehmensziele zu erreichen.

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Astrophysiker der NASA und ETH Professor Thomas Zurbuchen im Gespräch

Zurbuchen hält am 26. März 2024 eine Keynote am HR FESTIVAL europe. (Bild: zVg)

 

Wie arbeiteten Sie konkret mit dem HR der NASA zusammen?

Zurbuchen: Ich traf mich jede Woche zu einer Besprechung mit der Person, die für das HR der gesamten Organisation verantwortlich war. Unser grösstes Problem war die Bürokratie, insbesondere im Einstellungsprozess – wir waren viel zu langsam, insbesondere bei der Einstellung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern. Wir überprüften zuerst unsere interne Organisation und stellten dabei fest, dass das HR-Personal nicht genug auf diese Herausforderung fokussiert war. In der Folge änderten wir den gesamten Einstellungsprozess der NASA, um die Zeit zwischen dem Entscheid, eine Person einzustellen, bis diese «on seat» war, um den Faktor drei bis fünf zu verkürzen. Das erforderte eine umfassende Überarbeitung des Systems. Ebenso führten wir zusammen mit dem HR-Team Mitarbeiterbefragungen durch, beispielsweise um Probleme in der Zusammenarbeit zu identifizieren, wie etwa das Gefühl, von der Führung nicht ausreichend unterstützt zu werden. Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Entfernung von toxischen Mitarbeitenden, die die Unternehmenskultur belasteten und trotz freundlichem Zureden nicht umdenken wollten. Klar, das ist unangenehm und erfordert Mut, ist aber ein entscheidender Schritt für die Kultur und den Erfolg der Organisation. HR-Professionals sollten nicht zögern, solche Massnahmen zu ergreifen, wenn sie zur Verbesserung der Unternehmenskultur beitragen.

Worum dreht sich Ihre Keynote am HR FESTIVAL europe?

Zurbuchen: Ich werde Geschichten und Erlebnisse aus meiner Zeit bei der NASA und anderen Organisationen teilen, um praktische Einblicke in die Themen Kultur und Teamarbeit zu vermitteln. Denn für HR-Professionals ist es wichtig, nicht nur die Theorie und die Psychologie zu verstehen, sondern auch über konkrete Ansätze und Handlungsanleitungen für die Praxis zu verfügen. Mein Ziel ist es, dass die Zuhörerinnen und Zuhörer nach meiner Keynote konkrete und nützliche Erkenntnisse mitnehmen können, die ihnen in ihrer eigenen Arbeit helfen.

Keynote am HR FESTIVAL europe 2024

Thomas Zurbuchen hält das Keynote «Building a Superteam: Leadership Lessons from NASA» am HR FESTIVAL europe. Das HR FESTIVAL europe findet am 26. und 27. März 2024 in der Messe Zürich statt. Mehr Informationen zur Keynote: hrfestival.ch/event/building-a-superteam-leadership-lessons-from-nasa/

Das HR FESTIVAL europe findet am 26. und 27. März 2024 in der Messe Zürich statt. Tickets: www.hrfestival.ch/anmelden

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Daniel Thüler

Daniel Thüler, Chefredaktor HR Today, daniel.thueler@hrtoday.ch

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