Strategie

Flexible Arbeitsformen 
gesundheitsförderlich gestalten

Arbeiten in einem schlecht ausgestatteten Home Office oder wenn man krank ist: Das sind ungesunde Nebenwirkungen flexibler Arbeitsgestaltung. Damit es nicht soweit kommt, müssen sechs Kriterien berücksichtigt werden.

Mitarbeitende wünschen sich eine gute Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben. Etwa 87 Prozent der Schweizer Erwerbsbevölkerung gaben sowohl 2005 als auch 2010 beim European Working Condition Survey (EWCS)* an, dass sich die Arbeitszeiten mit ihren familiären und sozialen Verpflichtungen gut oder sehr gut vereinbaren liessen. Dieser erstaunlich hohe Wert hängt mit flexiblen Regelungen zum Arbeitsort und zur Arbeitszeit in der Schweiz zusammen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen hilfreich sind: Väter und Mütter kleiner Kinder können den morgendlichen Start nicht auf die Minute genau planen und schätzen Gleitarbeitszeit; andere kümmern sich um erkrankte Eltern und reduzieren hierfür phasenweise die Wochenarbeitszeit; eine junge Kollegin möchte kurzfristig bei gutem Wetter auch während der Woche einen Ausflug machen und ist hierfür bereit, am Abend oder am Wochenende E-Mails zu bearbeiten; wer durch Staus beeinträchtigt ist und die Reisezeiten zum Arbeitsort reduzieren möchte, weiss Home Office und 
Videokonferenzen zu schätzen.

Gut belegt sind positive Effekte von Home Office: Laut HR-Barometer 2010 haben ca. 23 Prozent der Schweizer Arbeitnehmenden die Möglichkeit, von zu Hause aus zu arbeiten. Und dies geht mit positiven Bewertungen zur Balance von Arbeit und Privatleben einher, wie eine Online-Befragung zum Home Office Day 2011 in der Schweiz zeigte. Geschätzt werden reduzierte Reisezeiten oder die grössere Nähe zur Familie. Besonders wichtig ist die erleichterte Koordination der unterschiedlichen Verpflichtungen. Die Mehrheit der Befragten, welche zu 69 Prozent aus Männern im Home Office bestand, arbeitet im Home Office, wenn der Rest der Familie nicht zu Hause ist, und nutzt dies für selbstbestimmtes Arbeiten.

So weit, so gut – doch wir alle kennen auch die Blackberry-Besessenen, die abends im Restaurant  oder im Urlaub erreichbar sind, E-Mails bearbeiten und Telefonate führen. Spätestens wenn regelmäs-sig am Wochenende oder in der Nacht von zu Hause aus gearbeitet wird, muss auch die Kehrseite flexibler Arbeitsformen geprüft werden. Um eine gesundheitsförderliche Wirkung flexibler und mobiler Arbeitsformen in Betrieben zu erreichen, sind zumindest sechs Kriterien zu berücksichtigen.

Erstens berücksichtigen betriebliche Regelungen zur Flexibilität nicht einseitig die Interessen des Betriebs, sondern auch die Bedürfnisse der Mitarbeitenden. Das ist nicht der Fall, wenn die Arbeitszeiten nur über Auftragsvolumen und Kundennachfrage bestimmt werden und für die Mitarbeitenden kaum planbar sind. Oder wenn Mitarbeitende bei steigender Arbeitsmenge allein gelassen werden, wiederholt unter Zeitdruck arbeiten müssen («Sie schaffen das schon bis 17 Uhr») und die 
Arbeitsintensität auch nach Erreichen zeitkritischer Meilensteine nicht abnimmt.

Ein Umdenken für Kader bezüglich Führungsstrategie

Zweitens verfügen die Mitarbeitenden über hohe Kompetenzen zur Selbstorganisation und begrüssen das eigenständige Mitdenken beim Festlegen von optimalen Arbeitsorten und -zeiten. Manche Mitarbeitende müssen hierzu eine Zeitlang unterstützt und gefördert werden. Folgerichtig ist das Potenzial zur Gesundheitsförderung bei guter Umsetzung von Home Office gross, etwa um störende Arbeitsunterbrechungen phasenweise zu reduzieren: In Verbindung mit der Möglichkeit, «flexibel zu entscheiden, wann man arbeitet», hat sich in der Home-Office-Studie 2011 ein konzentriertes, weitgehend störungsfreies Arbeiten als zentraler Vorteil des Home Office herausgestellt. Dieser Vorteil wirkt sich nach Ansicht der Befragten auch positiv auf ihre Produktivität aus: Mehr als zwei Drittel schätzen sich eher beziehungsweise viel produktiver ein, wenn sie zu Hause arbeiten.

Auch Kader müssen bisweilen umdenken: Eine Führungsstrategie mittels einer engmaschigen Kontrolle der Abarbeitung von wenig komplexen Arbeitsaufgaben 
reduziert genau diesen Vorteil der selbständigen Bestimmung von Arbeitszeiten.

Absprachen treffen, bevor 
Konflikte auftreten

Drittens wird der flexible Arbeitsplatz auch ergonomisch angemessen eingerichtet, um mobile Kommunikationstechniken von unterwegs, vom Kunden und von zu Hause aus professionell einsetzen zu können. In der Home-Office-Studie äusserte knapp die Hälfte Einschränkungen und Nachteile bezogen auf Home Office. Dabei rangierte «keine geeignete Ausstattung (Raum, Mobiliar)» hinter der eingeschränkten informellen Kommunikation und Problemen mit digitalen Ressourcen (etwa mangelnder Zugang zum Firmenserver) auf Platz 3. Mitarbeitende wünschen vom Arbeitgeber häufig eine bessere Unterstützung bei der Einrichtung und dem Betrieb des Home Office. Zwar äussern sich knapp 40 Prozent als zufrieden mit der Unterstützung, fast ebenso viele (37 Prozent) sind damit allerdings nicht zufrieden.

Viertens wird die Veränderung der sozialen Arbeitssituation von Beginn an proaktiv gestaltet. Kader gehen verstärkt auf unterschiedliche (Arbeitszeit-)Interessen der Mitarbeitenden ein und verabschieden sich von einer Gleichbehandlung aller Mitarbeitenden oder reduzieren Kontrollverhalten zugunsten eines ergebnisorientierten Führungsstils. Auch zwischen Mitarbeitenden werden Absprachen notwendig, etwa bezüglich Klarheit über asynchrones Arbeiten (zum Beispiel: Wie schnell muss auf E-Mails geantwortet werden?), bezüglich telefonischer Erreichbarkeit (auch am Abend und am Wochenende?) und bezüglich Anzahl persönlicher Treffen – bevor vorhersehbare Konflikte oder Gefühle der sozialen Isolation auftreten. Entsprechend hielt die Mehrheit in der Home-Office-Studie nach etwa 2,5 Tagen ein Face-to-Face-Treffen mit den Kolleginnen und Kollegen und nach etwa einer Woche mit den Kadern für notwendig.

Fünftens prüft das Management, ob bei zunehmender Flexibilität und Selbständigkeit im Betrieb Nebenwirkungen auftreten, die ein Risiko für die Gesundheit der Mitarbeitenden belegen. So gibt jede/r zweite Schweizer/in an, im vergangenen Jahr trotz Erkrankung gearbeitet zu haben. In innovativen Betrieben, die verstärkt auf Ergebnisorientierung und Zielerreichung setzen und nicht mehr die Anwesenheit am Arbeitsplatz kontrollieren, lässt sich diese erfolgsorientierte, interessierte Selbstgefährdung vielfach beobachten, also zum Beispiel krank arbeiten, freiwillig länger als 12 Stunden oder am Wochenende und in der Freizeit zu arbeiten – mit durchaus positiven Emotionen wie Stolz. In den pointierten Worten eines Mitarbeitenden: «Stress kann ich reduzieren, indem ich auf Urlaub verzichte.»

Insbesondere wenn beständiger Erfolgs- und Rechtfertigungsdruck besteht oder «Ertragsspiralen» entstehen (jedes Jahr Ertrag spürbar steigern), kommen Erholungsphasen bei einem Teil der Mitarbeitenden und auch bei Leistungsträgern zu kurz, und das Risiko für ein Erschöpfungssyndrom erhöht sich. Die ausgeprägte Ergebnisorientierung in Betrieben hat weitere Nebeneffekte: Eindeutig gesundheitskritisch waren für Mitarbeitende in Kooperationsbetrieben zunehmende Konflikte zwischen dem eigenen Qualitätsanspruch und der geforderten Taktung, zwischen Kunden und Erfolgsorientierung. Leider werden solche psychischen Belastungen in vielen Betrieben unzureichend zur Kenntnis genommen und zu selten bearbeitet. Hier stellen sich durch die flexibler und mobiler werdende Arbeit neue Anforderungen an die Kader.

Bei der Erhebung über Arbeitsbedingungen in der Schweiz (EWCS) kamen 
weitere erstaunliche Ergebnisse zum Vorschein: So gilt bereits für jeden sechsten abhängig Beschäftigten in der Schweiz, dass auf eine obligatorische Zeiterfassung im Betrieb verzichtet und auch kein Selbstaufschrieb erwartet wird. Für diese Gruppe konnte belegt werden, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Privatleben verwischen, also zum Beispiel mehr Mehrarbeit ohne Gegenleistung geleistet, häufiger in der Freizeit sowie trotz Krankheit gearbeitet wird. Wenn also bei der Förderung flexibler Arbeitsformen komplett auf die
 Zeiterfassung verzichtet wird, tritt Selbstgefährdung häufiger auf.

Bleibt wichtig: unbürokratisches Erfassen der Arbeitszeiten

Deshalb lautet das sechste Kriterium, nicht komplett auf die Zeiterfassung zu verzichten; zumindest ein verbindlicher Selbstaufschrieb ist weiterhin notwendig. Auch wenn für den einzelnen Betrieb das Verfallen von Mehrstunden kurzfristig 
kostengünstig ist: Gerade die engagierten Leistungsträger im Betrieb werden verstärkt ausbrennen, wenn über die reale Arbeitsbelastung nicht mehr gesprochen wird. Das unbürokratische Erfassen der Arbeitszeiten in Verbindung mit ihrer regelmässigen Thematisierung in der Mitarbeitenden-Kader-Interaktion bleibt somit ein Ziel der Gesundheitsförderung, selbst wenn manche Mitarbeitende einen Verzicht auf Zeitaufschrieb durchaus selbst begrüssen und als Privileg ansehen.

* 
Weitere Informationen: SECO-Bericht «Flexible Arbeitszeiten in der Schweiz», basierend auf Daten des European Working Condition Survey (Teilbericht von Cosima Dorsemagen, Andreas Krause, Mara Lehmann und Ulrich Pekruhl, erschienen 
im April 2012).

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Prof. Dr. Andreas Krause ist Studiengangsleiter des CAS Betriebliches Gesundheitsmanagement und Dozent für Angewandte Psychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Prof. Dr. Hartmut Schulze ist Dozent und Leiter des Instituts für Kooperations­forschung und -entwicklung ifk der Hochschule für ­Angewandte Psychologie FHNW.

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