HR Today 4/23: Psychische Gesundheit

Gestresste Jugend: So unterstützt man sie

Immer mehr junge Erwachsene leiden unter Stress. Woran das liegt, welche Auswirkungen es auf Arbeitgebende hat und was diese präventiv tun können.

Die Zahlen sprechen für sich: Gemäss einer Online-Befragung von Unicef mit über tausend Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren leiden rund 30 Prozent an psychischen Problemen. Weniger als die Hälfte von ihnen erhält professionelle Hilfe. Das Stressempfinden der Jüngeren nimmt zudem gemäss Job-Stress-Index deutlich zu.

Als Auslöser gelten schwierige Entscheidungen im Job, Überforderung bei Aufgaben, sozialer Stress mit Arbeitskolleginnen und -kollegen sowie Zukunftsängste.

«Eine Vielzahl von Studien zeigt, dass die Stressbelastung in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den letzten Jahren stetig zunahm», bestätigt Stephan Kupferschmid, der bis vor Kurzem als Chefarzt Psychiatrie an der Integrierten Psychiatrie Winterthur (IPW) Jugendliche und junge Erwachsene begleitete und heute designierter Chefarzt der Privatklinik Meiringen ist. Damit gingen Ess- und Zwangsstörungen sowie Depressionen einher, die häufig durch Stress entstünden. Der Stressbelastung gehe aber noch ein anderes Phänomen voraus: «Die Adoleszenzzeit hat sich verlängert», sagt Kupferschmid. «Jugendliche vollziehen manche Entwicklungsschritte viel später.» Etwa jene, selbständig zu werden oder sich selbst zu organisieren. Madeleine Bernard von der Berufsfachschule Gibb in Bern bekommt die psychische Belastung der Jugendlichen in der Praxis täglich zu spüren: «Viele sind emotional sehr gefordert. Betrieb, Berufsfachschule, Freunde und Familie: Alle stellen Ansprüche, die sie erfüllen sollen.» Hinzu kämen Zukunftsängste und der Leistungsdruck durch innere Antreiber, die Eltern oder die Berufsbildenden. Ein weiteres psychosoziales Risiko bestehe in ihrer mangelnden Einbindung am Arbeitsplatz, ergänzt Damian Stähli, Community-Verantwortlicher bei goMENTAL, einem Unternehmen, das Jugendlichen Trainings zum Umgang mit Druck und Stress anbietet. «Das stellt laut der World Health Organization WHO ein psychosoziales Risiko dar.» Junge Erwachsene bei der Entscheidungsfindung zu beteiligen, sei deshalb ein wichtiger Beitrag für deren psychische Gesundheit.

Vorbeugen statt behandeln 

Damit es nicht zum Worst Case wie einer Krankschreibung oder einem Lehrstellenabbruch kommt, brauche es ein Umfeld, in dem sich Jugendliche einer erwachsenen Person anvertrauen könnten, sagt Stähli. «Fühlen sie sich sicher genug, Schwierigkeiten im Betrieb anzusprechen, können Arbeitgebende entsprechende Massnahmen ergreifen.» Um herauszufinden, wie es um die psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz steht, helfen Tools wie «Safe Space» der Stiftung Enable me. Ein wohlwollendes Umfeld ist auch für Kupferschmid das A und O, um psychische Erkrankungen zu verhindern: «Jugendliche brauchen konkrete und wertschätzende Rückmeldungen sowie mehr Lob und Ermutigung als noch vor einigen Jahrzehnten. Eine gute menschliche Beziehung zum Vorgesetzten ist wichtig.» Eine Einschätzung, die Bernard teilt und ergänzt: «Dazu müssen Arbeitgebende und Berufsbildende ihre Erwartungen klar kommunizieren und immer wieder signalisieren, dass sie gesprächsbereit sind und sich für den Lernenden als Mensch und nicht nur als Arbeitskraft interessieren.»

Nicht nur bei Arbeitgebenden, auch in der Berufsbildung bestehen Ansatzpunkte, um Jugendliche aufzufangen, sagt Madeleine Bernard. «Wichtig ist, dass Lehrpersonen Auffälligkeiten und Veränderungen ansprechen und Hilfe wie unsere Beratungsstelle beiziehen.» Probleme würden eher erkannt, wenn Lehrbetriebe, Schule und Eltern im Austausch miteinander stünden. Dazu bietet die Gibb Bern Hand: «Wir bemühen uns, niederschwellige Möglichkeiten wie Elternabende oder Anlässe für Berufsbildnerinnen und Berufsbildner zu schaffen, um die Kommunikation und die Zusammenarbeit zu fördern.» Arbeitgebenden rät sie, «sich immer wieder die Entwicklungsaufgaben der Jugendlichen vor Augen zu halten. Es geht nicht nur darum, dass sie eine Ausbildung machen, sondern auch darum, eine eigene Identität zu entwickeln, das Wertesystem der Eltern zu hinterfragen, sich das erste Mal zu verlieben, Freundschaften zu pflegen und sich mit den eigenen Finanzen auseinanderzusetzen.» 

Lernen trotz psychischer Erkrankung

Den Kontakt zu den Jugendlichen behalten und ihnen wohlwollend begegnen: Das wird bei Swica so gelebt. «Berufs- und Praxisbildner führen mit ­Lernenden regelmässig Gespräche und fragen sie nach ihrer persönlichen Situation, dem Lehrbetrieb, der Berufsfachschule und dem persönlichen Umfeld.» Damit es nicht zur Über- oder Unterforderung komme, achte der Krankenversicherer aber bereits bei der Auswahl der Lernenden darauf, dass sie das Anforderungsprofil der Schule wie auch jenes von Swica erfüllen, sagt Silvia Schnidrig, Kommunikationsleiterin bei Swica.

Doch wie lassen sich Erfolge trotz psychischer Erkrankung erzielen? «Das kommt darauf an», sagt Kupferschmid. «Häufig treten psychische Störungen abgestuft auf. Depressionen können leicht, mittelschwer oder schwer sein.» Helfe eine Tagesstruktur bei einer leichten Depression, leide ein schwer depressiver Mensch unter so starken Konzentrationsproblemen, dass auch einfache Aufgaben unlösbar erscheinen. Ob die Eltern, die Schule oder der Arbeitgebende in die Therapie einbezogen würden, müssten die Betroffenen aber selbst entscheiden.

Bei Swica existiert für solche Fälle ein internes Care Management, das auch Jugendlichen zur Seite steht. «Zudem arbeiten wir mit externen Psychologen der Firma ICAS zusammen, wo sich Mitarbeitende bei psychischen Problemen anonym professionelle Hilfe holen können.» Daneben bietet ihnen der Krankenversicherer auch Online-Selbsthilfetrainings. «Das ganze Angebot ist kostenlos», sagt Schnidrig. Entscheidend für den Erfolg sei aber, dass sich Betroffene auf das Behandlungs- und The­rapieangebot einliessen. «Wir können Hilfe anbieten, sie muss aber auch angenommen werden.» 

Nicht nur Therapeuten, auch Gleichaltrige unterstützen Jugendliche, im Alltag wieder Fuss zu fassen, ergänzt Stähli. «Sie vermitteln sich ein Gefühl von Zugehörigkeit. Weil sie untereinander auf Augenhöhe kommunizieren, können sie in schwierigen Momenten zueinander stehen und sich gegenseitig motivieren, ihre Ziele zu erreichen.» Das sei in der goMENTAL-Community, die sich aus Teilnehmenden des goMENTAL-­Programms zusammensetzt, deutlich spürbar. Schon die ­Erkenntnis «Aha, das ist bei anderen auch so» oder «Die anderen verstehen mich» bringe Entlastung und motiviere, Probleme anzupacken.a

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

Weitere Artikel von Corinne Päper