Abgrenzung

«Mein Ziel war, einmal nicht kopflastig zu arbeiten, sondern mit ‹Manneskraft›»

Die Arbeit bestimmte das Leben von Michèl Probst. Im Herbst 2008 war dann vorerst Schluss damit: Probst nahm 
sich nach zwanzig Jahren bei der Schindler Aufzüge AG drei Monate lang eine Auszeit von seinem Job. Bevor es aber 
so weit war, erlebte der Leiter Product Management eine Reaktion von seinem HR-Leiter, die ihn überraschte.

Wie kamen Sie auf die Idee, ein Sabbatical zu nehmen?

Michèl Probst: Im Sommer 2007 verbrachte ich mit meiner Familie Ferien auf einem Bauernhof, zu dem auch eine Alp gehört. Ich sehe sie heute noch vor mir: das kleine Gärtchen mit Schnittlauch und Kopfsalat, der Hühnerstall mit vier Hühnern, ein paar Schweine und Kühe. Eine Familie mit drei Kindern bewirtschaftete die Alp während des Sommers. Was sie mir von dem Leben auf den Bergen erzählten, faszinierte mich. Wieder zu Hause, wurde ich den Gedanken nicht mehr los: das will ich auch! Ich wurde fast besessen von dem Wunsch, für eine gewisse Zeit ebenfalls eine Alp zu übernehmen.

Sie wollten dem Berufsalltag entfliehen ...

Der Gedanke, eine gewisse Zeit auszusteigen, entwickelte sich erst nach dem Wunsch, die Alp zu übernehmen. Aber dann kam die Forderung ganz klar: Ich hatte die letzten zehn Jahre sehr viel und mit grossem Engagement gearbeitet, war nebst Linienleiter auch immer Projektleiter und nun wollte ich endlich einmal Computer, Meetings und Verantwortung hinter mir lassen und eine andere Welt erleben.

Erst heute erkenne ich, dass ich vor dem Sabbatical ein richtiger Workaholic war. Ich arbeitete jede freie Minute, auch Samstag und Sonntag. Dass mein Verhalten von der Familie nur bedingt akzeptiert wurde, versteht sich von selbst. Auch hatte es Konsequenzen für meine Mitarbeiter, nur schon weil sie bereits am Montagmorgen die Mailbox voll hatten. Das war mir damals nicht wirklich bewusst.

An wen haben Sie sich mit Ihrem Wunsch nach einem Sabbatical gewendet?

An den HR-Leiter. Ich sagte ihm relativ schnell und offen, dass ich eine dreimonatige Pause machen wolle. Seine Reaktion war für mich überraschend. Er sagte einfach: «Ich gratuliere.» Offenbar hatte er meine übertriebenen Arbeitszeiten bereits im Visier und war froh, dass ich selber eine Veränderung anstrebte. Und weil er selber mehrmals ein Sabbatical genommen hatte, konnte er meinen Wunsch auch gut nachvollziehen. Danach wurde meine Anfrage dem CEO unterbreitet und innerhalb einer Woche hatte ich das O.K.

Gab es Auflagen oder vertragliche Regelungen bezüglich der Auszeit?

Ich bekam einen Coach, der mich zwei Monate vor Beginn des Sabbaticals begleitete und auch nach der Rückkehr wieder betreute. Darüber bin ich im Nachhinein sehr froh. Denn das Risiko, dass ich nach meiner Rückkehr wieder im gleichen Rhythmus weitergearbeitet hätte, war durchaus vorhanden. Vertraglich vereinbart wurde einerseits, dass ich nach der Rückkehr meine Funktion wieder übernehmen würde, und andererseits, wie die Auszeit finanziell geregelt wird: einen Monat nahm ich offiziell Ferien, ein Monat wurde mir bezahlt, ein Monat war unbezahlt. Zusätzlich habe ich mit dem HR-Leiter eine spezielle Vereinbarung getroffen: Im Grundsatz soll ich mich persönlich weiterentwickeln, in mich selber investieren und auf die Gesundheit achten. Die Vereinbarung beinhaltete verschiedene persönliche Ziele, die Dauer und das Entgelt, das Coaching, die zukünftige Anpassung der Organisationsstruktur und geplante Trainings.

Wieso hat man Ihnen nicht beide Monate bezahlt?

Für mich war es sehr wichtig, dass ich einen Monat kein Gehalt bekam. Ich lebte bisher, um zu arbeiten. Mit einem «leeren» Konto Ende Monat wollte ich wieder ganz bewusst lernen zu arbeiten, um zu leben.

Wieso begleitete Sie der Coach bereits vor dem Sabbatical?

Dank seiner Begleitung wurde mir vor dem Sabbatical bewusst, dass meine Prioritäten im Ungleichgewicht waren. Er wollte beispielsweise wissen, welchen Anteil die drei Grundpfeiler «Arbeit/Liebe/Soziales» in meinem Leben haben. Ich antwortete, dass die Arbeit wohl 70 Prozent, die Liebe 20 Prozent und das Soziale den Rest ausmache. Für den Coach war klar, dass meine Work-Life-Balance im Argen lag, und er sagte daher, dass wir mit der Liebe zu arbeiten beginnen würden. Das hat mich ernorm erstaunt, weil ich dachte, die Arbeit stehe im Zentrum unseres Coachings. Tatsächlich aber hat er mir bezüglich Arbeit nicht viel mitgeben können, dafür im Bereich Liebe und Soziales umso mehr. Zu Beginn des Coachings hatte ich Mühe, denn ich erhielt berufliche Anerkennung, es lief alles bestens und plötzlich sagt einem jemand: «Du hast die falschen Prioritäten.» Das war bitter zu schlucken. Aber es half mir, meine Einstellungen zu ändern und die Veränderungen während des Sabbaticals zu vertiefen.

Wie reagierte Ihr Team auf die Ankündigung Ihres Sabbaticals?

Gut. Sie fanden, ich habe es verdient. Sie zweifelten jedoch daran – auch wenn das niemand direkt aussprach –, dass ich mich nicht von unterwegs mit dem Computer oder dem Natel einloggen würde. Ich habe organisatorisch alles mit ihnen geregelt, jeder hatte seine Pendenzen- und Prioritätenliste und definierte Ansprechpartner. Die Stellvertretung habe ich auf möglichst viele und nicht nur auf den offiziellen Stellvertreter zu verteilen versucht.

Und – wie oft haben Sie den Computer eingeschaltet?

Nie, es hat mich nicht, aber auch gar nicht interessiert, was in der Firma läuft. Ich habe wirklich einfach abgeschaltet. Eigentlich erstaunlich, denn früher konnte ich nicht einmal eine Woche Ferien ohne Computer und Natel verbringen.

Was haben Sie nun während des dreimonatigen Sabbaticals gemacht?

Zuerst war ich ein paar Tage zu Hause und habe einfach am Familienleben mit den damals drei- und siebenjährigen Kindern teilgenommen. Danach habe ich ehrenamtlich zwei Wochen in einem Behindertenheim gearbeitet, wo ich mit IV-Rentnern turnte, kochte und spazierte. Ich erlebte mit ihnen eine Welt, wo es nur um die Grundbedürfnisse geht, und ich lernte, in einem völlig anderen Tempo und Tagesrhythmus zu leben.

Und Ihr Traum von der Alp?

Der Bauer hatte mir nach dem Sommer 2007 ein paar kritische Fragen gestellt, etwa ob ich wisse, wie man Zäune verlege, was zu tun sei, wenn eine Kuh kalbere, das Junge nicht trinken wolle. Ich musste mir eingestehen, dass ich die Fähigkeiten, Älpler zu sein, nicht besass, und der Bauer wäre mit mir ein grosses Risiko eingegangen.

Wie haben Sie Ihre Auszeit weiter noch verbracht?

Nach dem Behindertenheim jobbte ich als Handlanger: Ich habe für eine Garage zwei Tonnen Pneus entsorgt und in einer Metzgerei den Wurstautomaten bedient. Mein Ziel war, einmal nicht kopflastig zu arbeiten, sondern mit «Manneskraft», gerade im ersten Job.

Danach war ich mit meiner Familie fünf Wochen in Schweden mit dem Camper unterwegs. Während dieser Zeit konnte ich richtig entspannen und habe auch, wie vom Coach empfohlen, zu zeichnen begonnen und viel gelesen.
Danach ging ich eine Woche ins Kloster Einsiedeln, wo die Stille, das In-sich-Kehren und Nachdenken im Zentrum standen. Zudem haben mir die vielen Gespräche mit den Mönchen spirituell viel gebracht. Im Kloster habe ich erfahren, dass alles auf den Menschen zurückgeht. Nicht Innovationen oder Technologien machen das Leben aus, sondern der Mensch und wie er sich in seinem Umfeld verhält.

Sind Sie nach den drei Monaten gerne wieder zur Arbeit gegangen?

Ich hatte gar keine Lust dazu. Aber da war das «leere» Konto, von mir extra so provoziert, das mir deutlich sagte, «du musst arbeiten, um leben zu können». Der Wiedereinstieg war schwierig. Meine neuen Prinzipien, die ich für mich schriftlich festgehalten habe während meiner Klosterzeit, halfen mir, nicht wieder in den alten Trott zu fallen und die Arbeitszeit besser zu gestalten.

Wie haben Sie Ihren Berufsalltag nach der Auszeit verändert?

Ich habe meine Arbeitszeit auf ein normales Mass reduziert, samstags und sonntags arbeite ich nicht mehr und ausserhalb der Geschäftszeit wird nicht mehr gemailt. Ausnahmen gibt es nicht öfters, sondern selten. Die Mittagspause will ich für mich alleine nutzen und daher gehe ich nicht mehr in die Firmenkantine.

Zwar hatte ich früher grösseren und breiteren Kontakt zu den Leuten, aber dafür bestand die Mittagspause oft auch aus geschäftlichen Gesprächen. Die Vernetzung ist sicher ein wichtiger Punkt im Arbeitsleben, aber dazu reichen mir auch die acht oder neun Arbeitsstunden pro Tag.

Zudem habe ich im Team neue Dinge eingeführt, etwa «das Zeitfenster». Das ist eine Stunde am Freitagnachmittag, in der jemand aus dem Team über irgendetwas spricht, nur nicht über das Geschäft. Beispielsweise berichtete jemand über sein Hobby, ich habe Fotos von den Ferien gezeigt und ein anderes Teammitglied hat Zeitschriften mitgenommen und eine Stunde haben wir gelesen und diskutiert. Das Treffen ist freiwillig und bisher sind immer alle gekommen. Ich habe während des Sabbaticals auf der menschlichen Ebene sehr viel gelernt und profitieren können, das versuche ich nun an meine Mitarbeiter weiterzugeben.

Wie haben die Mitarbeitenden auf die neue Arbeitsmoral reagiert?

Sie sehen mich als Vorbild und sind selber weniger unter Druck. Ich lebe ihnen vor, dass Pausen, genügend Regenerationszeit und private Kontakte wie Familie und Freunde wichtig sind und gepflegt werden sollen. Es ist heute für niemanden mehr ein Problem, auch mal früher am Nachmittag nach Hause zu gehen oder ab und zu ganz von zu Hause aus zu arbeiten, ich mache das ja auch. Es ist aber auch heute noch eine konstante Herausforderung für mich, die Balance zu halten zwischen Arbeit und den anderen Eckpfeilern Liebe und Soziales.

Was sollte man Ihrer Erfahrung nach bei einer Auszeit unbedingt beachten?

Die Begleitung vor und nach dem Sabbatical ist sehr wichtig. Weiter muss man die Zeit gut strukturieren, sich Ziele setzen, die man erreichen will. Auf alle Fälle sollte man seine Auszeit selber planen und nicht durch die Firma regeln lassen. Ich habe alle meine Aktivitäten vor meinem Sabbatical selber bestimmt und organisiert.

Haben Sie schon das nächste Sabbatical geplant?

Ich habe beschlossen, alle fünf Jahre eines zu machen, das nächste ist für 2013 geplant. Irgendwann werde ich auch meinen Traum von der Alp verwirklichen, doch dafür muss ich noch das Älplerleben trainieren.

Michèl Probst

arbeitet seit 1991 bei der Schindler Aufzüge AG. Als Leiter Product Management sind ihm vier Leute direkt unterstellt und als Leiter eines Projektteams führt er weitere fünf Mitarbeiter. Als er sich im Jahr 2008 zu einem dreimonatigen Sabbatical entschloss, war er mit seinem Team für den ganzen Geschäftsbereich Modernisierung zuständig.

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