Scham in der Beratung

«Scham zeigt sich meist als Maske»

Niemand will es, alle haben es. Das Gefühl der Scham gehört zum Menschsein. Wie soll man damit umgehen? Der Betriebsökonom und Wirtschaftspsychologe Reto Stern hat Antworten.

Wer sich ins Coaching begibt, redet über Dinge, die nicht selten schambesetzt sind. Reto Stern hat sich damit auseinandergesetzt und soeben ein Buch zum Thema publiziert: «Scham in der Beratung: Zum Umgang mit Scham der Coachee im Coachingprozess» (vgl. Kasten).

Herr Stern, wofür schämen sich die Menschen am meisten?

Reto Stern: Scham ist ganz individuell. Menschen schämen sich zum Beispiel dafür, dass sie nicht der Norm entsprechen oder dass sie nicht so funktionieren, wie sie gerne hätten. Es scheint, als müssten wir heute alle jung, gut ausgebildet und erfolgreich sein, gut auftreten können und die richtigen Sprüche draufhaben, Karriere machen und sie mit der Familie unter einen Hut bringen – Winnertypen sein. Für alles aber, was nicht makellos ist, sollte man sich in unserer Gesellschaft scheinbar schämen.

Welche Handlungen lösen am meisten Scham aus?

Das ist verschieden. Menschen schämen sich zutiefst, wenn sie öffentlich blossgestellt werden oder wenn sie «Fehler» machen und dabei ertappt werden. Oder aber wenn sie sich selbst verraten, wie beispielsweise ein Manager, der eine Standortverlagerung in ein Land mit weniger Umweltschutz durchzieht, obwohl das gegen seine Überzeugung ist.

Eine Person verspürt im Coaching offensichtlich Scham. Wie kann ihr diese genommen werden?

Ich halte das für einen Denkfehler. Es ist kein Ziel, einem Menschen die Scham zu nehmen, denn dadurch würde er ja die Scham los, schamlos. Ohne Scham findet keine Entwicklung statt. Scham gehört zum Menschen und kann weder abgestellt noch weggemacht oder geheilt werden. Scham hat allerdings positive wie auch negative Aspekte.

Welches sind die positiven?

Scham trägt zur Identitäts- und Charakterbildung, zur Entwicklung bei. Ein Mensch lernt früh, wie er sich in der Gesellschaft bewegen kann oder muss, damit er weiterhin dazugehört, spürt, wo Grenzen sind und wo er wie seine Integrität wahren kann. Das Gefühl der Scham hilft ihm dabei wie ein feiner Seismograph. Das Gleiche gilt später, wenn jemand eine neue Arbeitsstelle antritt. Auch dort muss er wissen, was geht und was nicht, wie das Team und sein Chef funktionieren.

Wann wird Scham negativ, also krankhaft?

Wird die aufkommende Scham gefühlt, ausgehalten und durchgestanden, gibt sie uns Auskunft über uns selbst in einer gegenwärtigen Situation. Es gibt aber Menschen, für die ist Scham nicht mehr ein Gefühl, sondern ein Zustand: Sie haben nicht mehr Scham, sondern sie sind Scham. Die sogenannte toxische Scham hat ihre Wurzeln meist in der Kindheit oder Jugend, und es kann sinnvoll sein, sie im Rahmen einer Therapie aufzuarbeiten. Wichtig ist, dass der Coach gesunde und toxische Scham unterscheiden kann und weiss, wie mit beiden umzugehen.

Was bedeutet das?

Der Coachee soll seine Würde behalten. Dafür braucht es drei Dinge. Erstens müssen die Grenzen von Coachee und Coach geschützt werden. Es braucht dafür zum Beispiel einen sicheren Raum, das Gesagte darf den Raum nicht verlassen, es soll nicht bohrend nachgefragt oder zu provokativ interveniert werden.

Zweitens?

Die Zugehörigkeit muss gesichert sein: Der Coach zeigt ideal eine wertschätzende Haltung, er kann zuhören, ist höflich und taktvoll. So können schambesetzte Erlebnisse, bei denen der Coachee in der Vergangenheit das Zugehörigkeitsgefühl verlor, nochmals erlebt werden, in einem jetzt sichereren Rahmen.

Und drittens?

Ideal ist, wenn der Coachee authentisch und integer sein kann. Er kommt in einer beruflichen Rolle ins Coaching, die kann und soll er auch nicht ablegen, er soll sich aber nicht innerlich verbiegen müssen deswegen. Der Coach sollte auf Wertungen verzichten.

Nun wird kaum jemand ganz direkt sagen: «Ich schäme mich.»

Scham wird oft verdrängt, zeigt sich meist als Maske, da Scham eines der unangenehmsten Gefühle ist. Wer seinen Chef und seine Kollegen zu Beginn als «Pfeifen» beschimpft, versteckt hinter dieser Schamlosigkeit möglicherweise seine eigene Scham darüber, dass etwas nicht so läuft, wie er möchte und er sich anderen gegenüber machtlos fühlt.

Masken, hinter denen sich die Scham verbirgt

  • Intellektualisierung, Um-sich-Werfen mit Fremdwörtern
  • Flucht in Fantasien oder Sucht
  • Idealisierung
  • Aggression (gegen sich selbst oder andere)
  • Projektion
  • Schamlosigkeit, Beschämung anderer: Herziehen über Kollegen, die Chefin oder auch den Coach
  • Unfähigkeit, das Anliegen zu formulieren, Schwerverständlichkeit, Sich-nicht-festlegen-Können
  • Sarkasmus, Zynismus, Negativismus

Hinter solchen Verhaltensweisen steckt oft Scham. Aber nicht immer, manchmal verbirgt sich dahinter auch etwas anderes, zum Beispiel unverarbeitete Trauer.

  • (Quelle: Reto Stern)

Was ist zu tun?

Der Coach muss sich dann zuerst selbst schützen. Wichtig ist auch, dass er hinter der Maske den Menschen erkennt, der vielleicht innerlich ums Überleben kämpft. Dann gilt es die Scham zu kennen, wie sie funktioniert. So kann richtig interveniert werden. Die Gefühle des Coachee sind in Ordnung, so wie sie eben sind – und er darf sich schämen. Die Scham hinter der Maske zu orten, dieses Gefühl spüren zu lernen, es auszuhalten und durchzustehen ist ein wichtiger erster Schritt für den Coachee.

Wie sieht das konkret aus?

Man lässt zum Beispiel einem Manager, der in Tränen ausbricht, Raum, ohne Kommentare, und zeigt ihm damit, dass das in Ordnung ist. So merkt er: Ich habe geheult und es ist in Ordnung. Ist Scham im Spiel, so kann man nur aufklären und dem Prozess vertrauen, der entsteht. Bei einem sensiblen Umgang mit den Reaktionen des Coachee kann Coaching wirklich das leisten, was es verspricht: eine angeleitete Selbstreflexion.

Sie schreiben, der Schamaspekt sei vor allem bei Führungskräften wichtig. Warum?

Weil sie die Unternehmenskulturen prägen und Vorbilder für Mitarbeiter sind. Verdrängte Scham kann Gewalt gegen andere oder gegen sich selbst nach sich ziehen. Es gibt Manager, die regelmässig abends um 10 Uhr noch Sitzungen anberaumen. Das ist eine Grenzüberschreitung. Wenn die Scham verschwindet, verschwindet auch die Menschlichkeit.

Und wenn die Scham in einem gesunden Rahmen gelebt wird?

Dann ist sehr vieles möglich, besonders bezüglich Gesundheit, Kreativität, Innovation und einem effektiven Miteinander. Wenn man eine neue, unkonventionelle Idee bringt, wird es wohl immer jemanden geben, der fragt «Was soll denn das jetzt?» Wer das mit einem gesunden Selbstbewusstsein aushalten kann, steht seiner eigenen Kreativität nicht mehr im Wege.

Buchtipp

Reto Stern: «Scham in der Beratung: Zum Umgang mit Scham der Coachee im Coachingprozess». LIT Verlag 2012. Broschiert, 224 Seiten, 39.90 Euro. (CH: 53.90 Franken)

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Franziska Meier ist Redaktorin und Produzentin mit langjähriger Erfahrung im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Als Chefredaktorin des Magazins «fit im job» sowie als Fachredaktorin der Zeitschrift «HR Today» hat sie sich auf das Thema «Mensch, Arbeit & Gesundheit» spezialisiert. Zu ihren journalistischen Schwerpunkten gehören insbesondere Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Stressprävention und betriebliches Gesundheitsmanagement. Achtsamkeit praktiziert sie manchmal im Schneidersitz, öfter jedoch auf ihren Spaziergängen rund um den Türlersee.

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