Karriere

«Unter dem Etikett Talent Management wird viel zu viel Hokuspokus subsumiert»

Für den Berater, Buchautor und Referenten Reinhard K. Sprenger sind strukturierte Talent-Management-Prozesse ein Ding der Unmöglichkeit. Der Grund: Talente können nicht von aussen gemanagt werden, weil sie so individuell sind wie die Menschen selbst. Um das bestmögliche aus den Mitarbeitern herauszuholen, rät er den Firmen zu Strukturen, die Freiräume lassen, zu einem klugen «Adhocismus» und zur «Kleinkunst des konstruktiven Ungehorsams».

Herr Sprenger, woran denken Sie beim Wort Talent?

Reinhard K. Sprenger: An Lars Ricken, Sebastian Deisler oder Kalle Del Haye, Fussballer, die als ewige Talente galten und aus denen nie etwas geworden ist. Denn der Aggregatzustand des Talents ist die Möglichkeit, nicht die Tatsächlichkeit. Talente leben von der Zukunftserwartung des Vielleicht, das aber im Jetzt nicht realisiert ist. Damit ist der Erwartungsraum riesig und im Grunde eine Abwertung der Gegenwart – und damit auch der Fähigkeiten, die ein Mensch im Moment hat und die er im Wesentlichen seinen Eltern verdankt.

Talent ist also etwas Vererbtes?

Ich möchte diese Frage mit einer Geschichte aus der Bibel beantworten. Ein Vater gab jedem seiner Söhne ein Talent Gold. Der eine Sohn vergrub dieses und der andere nutzte und vermehrte es. Nach einer gewissen Zeit kamen sie zurück zum Vater; der eine Sohn mit demselben Talent, das er vom Vater erhalten hatte, und der andere mit dem gemehrten Talent. Letzterer genoss das Ansehen des Vaters.

Aus dieser Geschichte entnehme ich, dass wir nicht nur das Recht, sondern eben auch die Pflicht haben, die Anlagen, die wir von unseren Eltern bekommen haben, zu mehren und nicht brachliegen zu lassen.

Also ist es Sache jedes einzelnen Menschen, sich um seine Talente zu kümmern?

Ja, natürlich. Talente aufgrund von -Potenzialanalysen erkennen und fördern zu wollen, halte ich für Kaffeesatzleserei. Ob jemand eine bestimmte Fähigkeit hat oder nicht, kann ich nur erkennen, wenn ich ihm die Möglichkeiten gebe, diese konkret auszuprobieren. Ich kann also von der Realisierung her rückwärtig daraus schlies-sen, ob oder dass die Person Talent hatte; ähnlich wie beim Glück, das man erst erkennt, wenn es vorbei ist.

Das passt so ganz und gar nicht zur modernen Unternehmenswelt, die möglichst alles berechen- und steuerbar machen möchte. Wie sollen denn die Menschen innerhalb einer modernen Organisation ihre Talente mehren?

Eine Organisation und die Führungskräfte darin müssen ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, ihre Talente auszuprobieren. Talent Management bedeutet also nichts anderes, als Strukturen zu schaffen, die es Menschen ermöglichen, sich auszuprobieren.

Folglich kann man Talent nicht managen?

Genau, Talente können nicht von aussen gemanagt werden. Talent ist das, was in einem angelegt wurde, plus Disziplin plus Fleiss plus aktive Suche nach Spielfeldern, in denen wir und unsere Fähigkeiten gefordert werden.

Heute wird unter dem Edeletikett Talent Management viel zu viel Hokuspokus subsumiert. Nehmen Sie zum Beispiel die ganze Idee des Vorbereitens auf eine Rolle oder Funktion. Das ist doch gar nicht möglich, denn Menschen lernen erst dann, wenn sie ein konkretes Problem lösen müssen oder wenn sie etwas sehen, das ihre Leidenschaft weckt. Doch das ist relativ selten der Fall, wenn man struktur-hierarchisch etwas vor die Nase gesetzt bekommt. In der Regel sucht man sich -diese Dinge selbst aus.

Haben Sie dafür Beispiele?

Als Menschen sind wir nicht austauschbar, als Rollenträger jedoch sehr wohl, müssen es sogar sein. Wenn ich anfange, Pläne zu machen, um Talente zu ent-wickeln, dann erzeuge ich erstens Erwartungen und gehe zweitens von Kontinuitäten aus. Beides stammt aus einer Zeit relativ ruhiger Abschöpfungsmärkte und neosozialistischer Planungsprozesse der 70er-Jahre. Heute ist so etwas nur noch sehr selten möglich. Im Regelfall finden in grossen Organisationen alle zwei bis drei Jahre so fundamentale Restrukturierungen statt, dass langfristige Planung lächerlich wirkt. Kurzfristige Entscheide  – auch in der Besetzung von Rollen und Funktionen –  sind die Realität. Was wir heute also für die Besetzung von Schlüsselpositionen mehr denn je brauchen, ist kein Talent-Management-Prozess, sondern ein kluger «Adhocismus».

Was dann das Talent und die Organisation verbindet, ist die Erwartung einer Zukunft als gemeinsamer Zukunft. Das muss ich kommunizieren und inszenieren. Innerhalb dieser gemeinsamen Zukunft müssen die Mitarbeitenden permanent neue Spielfelder erhalten, auf denen sie ihre Fähigkeiten und Anlagen ausprobieren können. Dabei ist es essenziell, dass sie beim Ausprobieren spüren, dass das, was sie machen, auch gewollt und anerkannt wird. Wir alle kennen Leute, die extrem leistungsbereit und leistungsfähig sind, doch wenn sie sich in der Wahl des Spielfeldes vertan haben, dann kriegen sie ihre PS nicht auf den Boden. Die wandern früher oder später in die freizeitorientierte Schonhaltung.

Talent Management heisst also, den Mitarbeitenden innerhalb gewisser Leitplanken genügend Spiel- und Freiraum zu lassen?

Exakt. Für die Leistungsbereitschaft ist jeder selbst verantwortlich, für die Leistungsfähigkeit auch und für die Leistungsmöglichkeit zunehmend. Die Devise lautet: Schaff dir den Raum, den du brauchst, und fordere die Möglichkeiten dazu. Besser um Verzeihung bitten als um Erlaubnis fragen. Auf unserem Sterbebett werden wir jedenfalls nicht bedauern, was wir ausprobiert haben, sondern was wir nicht ausprobiert haben.

Diese Forderungen entsprechen der neuen Generation, die jetzt in den Arbeitsmarkt strömt. Wie kann man diese im Unternehmen halten und am gewinnbringendsten nutzen?

Indem man eine vernünftige Führungskultur etabliert. Denn Mitarbeiter kommen zwar zu Unternehmen, aber sie verlassen Vorgesetzte. Das heisst, zu einem Unternehmen kommen die Menschen meistens wegen seines guten Brands oder wegen anderer Kriterien der Makroebene. Wenn sie es dann wieder verlassen, geschieht dies meistens wegen Beziehungsproblemen auf der Mikroebene. Das hat die tragikomische Konsequenz, dass die Investition ins Employer Branding eigentlich herausgeschmissenes Geld ist, solange sie als Firma schlechte Führungskräfte beschäftigen.

Wenn Unternehmen also merken, dass die Fluktuation von Schlüsselmitarbeitern hoch ist, sollten sie sich ernsthaft Gedanken über die Qualität der Führungskräfte machen. Sind diese in der Lage, eine Kultur aufzubauen, die Loyalität wachsen lässt? Gute Führungskräfte schaffen ein Klima, in dem Menschen sich eingeladen fühlen, ungefragt ihre Meinung mitzuteilen. Und zwar egal in welcher Funktion oder Hierarchie. Gute Führungskräfte mögen Menschen, vor allem ihre Vielfalt, und räumen ihren Mitarbeitenden die Möglichkeiten der Selbstentwicklung ein. Sie werben täglich um ihre Mitarbeitenden, und zwar mit Respekt, Wertschätzung und Aufmerksamkeit. Dadurch entwickeln sich die Potenziale der Mitarbeitenden fast von selbst – so sie denn da sind.

Nötig sind also Chefs, die Freiraum geben, die offen sind für die Ideen ihrer Mitarbeitenden und Wertschätzung vermitteln. Wie und wo lassen sich solche Führungskräfte finden oder fördern?

Ganz wichtig ist: Führungskräfte sind keine Manager. Management bedeutet, Prozesse zu kreieren, zu steuern und zu überwachen. Führung bedeutet, sich für Menschen zu interessieren und mit diesen gemeinsam etwas zu schaffen – bis zu dem Punkt, wo der Mitarbeiter keine Führung mehr braucht. Denn Führung ist nur legitimierbar als Führung zur Selbstführung. Ob ein Mensch diese Führungseigenschaften mitbringt, finde ich nicht in Assessments oder anderen Analysen heraus, sondern mit gesundem Menschenverstand und erfahrungsgesättigtem Bauchgefühl. Ich spüre doch, ob ein anderer Mensch in mir Widerstand erzeugt und mein Ego-System antriggert oder ob er an meine Selbstverantwortung appelliert.

Ein sehr idealistisches Bild, das Sie da zeichnen. Ist das in den vom Quartals- und Sicherheitsdenken geprägten Unternehmen überhaupt durchführbar?

Leider gibt es noch immer viele Unternehmen, die den Wissensverlust zu stoppen versuchen, indem sie ihren Schlüsselmitarbeitenden goldene Fesseln anlegen. Das Motivationsproblem lässt sich jedoch definitiv nicht mit dem Griff zur Geldbörse lösen, denn Ketten aus Gold fesseln genauso wie Ketten aus Eisen.

Aber es gibt in vielen Firmen, auch in börsennotierten, weise Führungskräfte, die sich darauf konzentrieren, Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Selbstentwicklung der Mitarbeiter ermöglichen. Diesen Chefs gelingt es, ihre Leute ohne Fesseln zu halten, und die Mitarbeitenden danken es ihnen mit hoher Motivation und tollen Leistungen.

Wie machen die das? Oder anders gefragt: Wodurch zeichnet sich ein weises Führungsgremium aus?

Zunächst einmal ist es falsch zu glauben, Unternehmen würden durch betriebswirtschaftlich rationales Verhalten geprägt. Die Organisation als Organisation hat ihr Eigenleben. Und vieles in der Organisation muss stattfinden, damit sich die Organisation ihrer selbst vergewissern kann, obwohl es inhaltlich Unsinn ist. Ich nenne das afrikanische Regentänze. In Afrika wird ja auch immer getanzt und trotzdem kommt kein Regen. Wenn sie also beispielsweise börsennotiert sind und Ratingagenturen, Analysten und Investoren beeindrucken müssen, dann machen sie das ganze Brimborium rund um Strukturen, Prozesse und Programme mit, um auf der symbolischen Ebene zu zeigen, dass sie das alles auch können. Ein weises Management macht dieses Spiel zynismusfrei mit, weil es dieses spielen muss. Aber hinter den Kulissen, sprich im Firmenalltag, läuft etwas anderes. Ich nenne das die Kleinkunst des konstruktiven Ungehorsams. Dazu braucht es keine Mora-listen, sondern Praktiker mit Loyalität, Augenmass und gesundem Menschenverstand.

Der Gesprächspartner

Reinhard K. Sprenger ist 1953 in Essen geboren und studierte Philosophie, Psychologie, Betriebswirtschaft, Geschichte und Sport an der Ruhr-Universität Bochum und an der Freien Universität Berlin. 1985 erhielt er den Doktortitel im Bereich Philosophie. Seine Doktorarbeit «Nationale Identität und Modernisierung» wurde mit dem Carl-Diem-Preis ausgezeichnet. Er war Lehrbeauftragter an den Universitäten von Berlin, Bochum, Essen und Köln.

Sprenger arbeitete als wissenschaftlicher Referent beim Kulturministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Dann trainierte er Aussendienstmitarbeiter bei der 3M Medica und stieg zum Leiter für Personalentwicklung und Training auf. 1990 machte er sich als freier Vortragsredner und Berater für Personalentwicklung selbständig. Des Weiteren ist Sprenger Autor mehrerer Bücher, die sich ausnahmslos zu Bestsellern entwickelten. Sein «Mythos Motivation» aus dem Jahr 1991 ist zu einem modernen Klassiker geworden, der gerade in der Finanzkrise unverändert aktuell ist. Zuletzt erschienen: «Gut auf-gestellt – Fussballstrategien für Manager». Sprenger ist Vater von vier Kindern und lebt in Zürich und in Santa Fe, New Mexico. Daneben ist er auch Musiker.

 

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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