Arbeit und Recht

Vertrauen ist gut, Kontrolle besser. Oder umgekehrt?

Das Gesetz schreibt die Arbeitszeiterfassung vor. Doch längst nicht alle Unternehmen halten sich daran. 
Ein Pilotprojekt in der Bankenbranche könnte nun die Lücke zwischen Gesetz und Realität schliessen. 
Die Lösungen, die in diesem Rahmen erarbeitet werden, sollen auch für die anderen Branchen gelten.

Die rechtliche Lage ist klar: Das Gesetz schreibt vor, dass Arbeitgeber, die dem Arbeitsgesetz unterstellt sind, die Arbeitstage und -zeiten ihres Personals dokumentieren und fünf Jahre lang aufbewahren müssen (Art. 46 Arbeitsgesetz, Art. 73 Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz). Darunter fallen nicht nur der tägliche Arbeitsanfang und das Arbeitsende, sondern auch Pausen von 30 und mehr Minuten.

36 Prozent nicht gesetzeskonform?

Dass nicht alle dieses Gesetz befolgen, ist ebenfalls klar. Wie viele es sind, ist nicht bekannt: «Wir haben keine Zahlen dazu», schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO auf Anfrage. «Aber wir gehen davon aus, dass die grosse Mehrheit der dem Arbeitsgesetz unterstellten Arbeitnehmenden die Arbeitszeit erfassen.» Das SECO beaufsichtigt den Vollzug der Vorschriften über den Arbeitnehmerschutz durch die Kantone. Auf kantonaler Ebene existieren Kontrollorgane, im Kanton Zürich zum Beispiel das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA). Auch dort sind keine Zahlen erhältlich.

Im März 2011 gaben in der HR-Trend
ticker-Umfrage der HR-Gesellschaften ZGP, BGP und HR Bern immerhin 22,8 Prozent an, dass bei ihnen Vertrauensarbeitszeit gelte. Lediglich Abwesenheiten wie Ferien, Ausbildung, Krankheit etc. wurden erfasst. Weitere 13 Prozent erfassten nur die Arbeitszeit ohne Angabe von Uhrzeiten, oder sie erfassten nur einen Teil ihrer Arbeitszeit, zum Beispiel wegen externer Verrechnungszwecke. Demnach würden knapp 36 Prozent der Betriebe ihre Arbeitszeiterfassung nicht gesetzeskonform betreiben. (Für die Umfrage wurden 3000 HR Professionals angeschrieben, es gab 741 qualifizierte Antworten.)

Trifft ein kantonales Kontrollorgan auf Vertrauensarbeitszeit in einem Unternehmen, greift es ein. «Es stehen verschiedene Massnahmen zur Verfügung, um einen effizienten Vollzug der arbeitsgesetzlichen Vorgaben zu den Arbeitszeiten sicherzustellen», erklärt Franz Aschwanden, juristischer Sekretär beim AWA Zürich. In der Regel erfolgt zuerst ein Hinweis beziehungsweise eine Verwarnung, darauf eine Nachkontrolle. Falls immer noch Missstände bestehen, kann eine Verfügung erlassen werden. Das Gesetz sieht zudem vor, dass  Massnahmen des Verwaltungszwangs sowie Strafverfahren eingeleitet werden können.

Das AWA Zürich kontrolliert in Form von Stichproben, ob in den Betrieben die gesetzlichen Vorgaben zu den Arbeitszeiten eingehalten werden. Die Arbeitszeiten können allerdings nur dann überprüft werden, wenn auch entsprechende Aufzeichnungen existieren. «Nur bei einer korrekten Arbeitszeiterfassung können wir kontrollieren, ob dem Gesundheitsschutz Rechnung getragen wird, ob die Arbeitnehmer zum Beispiel genug Ruhezeit haben», sagt Aschwanden.

Eine Minute Aufwand für die tägliche 
Arbeitszeiterfassung

Die Arbeitszeiterfassung biete also einen starken Schutz der Arbeitnehmer vor Ausnutzung sowie vor der sogenannten «interessierten Selbstgefährdung» (siehe dazu auch HR Today 4/10). Ein effektiver Gesundheitsschutz ist aus Sicht des AWA Zürich nur möglich, wenn alle relevanten Daten vorhanden sind. Aufzeichungen, die nur Wochen-, Monats- oder Jahresarbeitszeiten enthalten, seien zu schwammig für die Kontrolle.

Dass die Arbeitszeiterfassung von gestern sei und nicht mit der heutigen Arbeitswelt vereinbar, verneint Franz Aschwanden:  «Die Erfassung ist auch bei modernen Arbeitsmodellen, ob im Büro oder im Home Office, kein Problem.» Ob mit einem PC-Programm, einer Stempeluhr oder von Hand, die tägliche Erfassung der nötigen Eckwerte dauere nur etwa eine Minute. Ein wichtiger Aspekt der Erfassung ist laut Aschwanden auch, dass bei Rechtsstreitigkeiten zur Arbeits- und Überzeit Beweise vorhanden seien.

Es könnten demnächst Änderungen anstehen. Ende 2011 haben das SECO, kantonale Vollzugsorgane, die Sozialpartner der Bankenbranche sowie mehrere Banken das rund zweijährige Pilotprojekt «Arbeitszeiterfassung im Bankensektor» abgeschlossen, das eine erleichterte Arbeitszeiterfassungspflicht austestete. Balz Stückelberger, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Banken in der Schweiz (AGV Banken), der ins Projekt involviert war, sagt: «Es braucht auch weiterhin eine Arbeitszeiterfassung, wir fordern keine absolute Vertrauensarbeitszeit. Aber in der heutigen Arbeitswelt, wo sich Privat- und Arbeitsleben immer mehr vermischen, braucht es andere Arten der Arbeitszeiterfassung als das bisherige ‹Minütele›.»

Konkret ging es beim Projekt darum, nicht täglich die Arbeitszeit zu dokumentieren, sondern nur dann, wenn die Zeit von elf Stunden pro Tag oder die monatliche Normal-arbeitszeit überschritten wurde. Also zum Beispiel, wenn vier Wochen hintereinander mehr als 42 Stunden gearbeitet wurde. Damit diese Regelung nicht missbraucht werde, braucht es laut Stückelberger flankierende Massnahmen: «Der Arbeitgeber muss über Arbeitszeitpflichten und -rechte informieren. Es braucht eine interne Anlaufstelle, und Ende Jahr ein Gespräch mit dem Vorgesetzten über die Arbeitszeit.» Auch wurde eine Meldepflicht beim Erreichen einer Eskalationslinie diskutiert. Diese Meldepflicht sollte gewährleisten, dass die Vorgesetzten erkennen, wenn ihre Untergebenen durch zu viel Arbeit ihre Gesundheit gefährden.

Den Arbeitsaufwand einer Woche im Überblick bewerten

Das Modell lässt eine Frage offen: Wie soll man die Überschreitung von bestimmten Arbeitszeitlimiten erkennen, wenn man die Arbeitszeit als solche nicht konsequent erfasst? Balz Stückelberger: «Bei den meisten Menschen laufen die Arbeitstage in etwa gleich ab. Also kann ich Ende Woche ins Outlook schauen und nachvollziehen, was ich in der Woche in etwa an Aufwand hatte. Da weiss ich ja noch, dass ich zum Beispiel am Mittwoch ein Projekt hatte, das bis 21 Uhr dauerte. Ich weiss da auch noch, ob ich eine strenge oder lockere Woche hatte. Wir sagen, es muss doch möglich sein, das nachzuvollziehen.»

Der Pilot ist inzwischen abgeschlossen, seit einiger Zeit finden Verhandlungen statt. Das Projekt wurde vom SECO gestartet, um «nach Lösungen zu suchen, wie dem Auseinanderklaffen zwischen Gesetz und Realität Abhilfe geschaffen werden könnte». Das lässt darauf schliessen, dass es zu Lockerungen kommt. Diese Schlussfolgerung wird vom SECO allerdings verneint: «Es kann eine Lockerung geben, muss aber nicht», sagt Marie Avet, stellvertretende Leiterin Kommunikation. Über mögliche Szenarien wird mit Verweis auf die laufenden Gespräche zwischen den Dachverbänden der Sozialpartner und den kantonalen Vollzugsbehörden zurzeit keine Auskunft gegeben.

Die NZZ machte im November 2011 mehrere Szenarien publik: Beibehalten des Status Quo; Befreiung der Arbeitszeiterfassungspflicht via GAV – aber mit zusätzlichen Ferientagen; Lockerung der Erfassungspflicht, welche die Sozialpartner auf Betriebs- oder Einzelarbeitsvertragsebene beschliessen können; Befreiung für Berufstätige mit einem Jahreseinkommen über 200 000 Franken. Von SECO-Seite soll auch die Minimallösung vorgeschlagen worden sein, wöchentliche Überstunden ab einer Arbeitszeit von 45 Stunden festzuhalten.

Eine Lösung für alle Branchen: «Wir wollen damit Geschichte schreiben!»

Das SECO schweigt zu diesen Szenarien und verweist auf den Frühling 2012: «Die Eidgenössische Arbeitskommission wird an ihrer ersten Sitzung vom SECO über den Entscheid und das weitere Vorgehen informiert. Und anschliessend wird auch die Öffentlichkeit informiert werden.»

Auch Balz Stückelberger kann nicht ins Detail gehen. Er gibt aber zu verstehen, dass man sich in seiner Branche mit einer Sonder-GAV-Lösung mit den Sozialpartnern zufrieden zeigen könnte. «Das würde nicht nur eine Ergänzung des Artikels 73 bewirken, sondern auch die Frage nach sich ziehen, wer in Zukunft für die Kontrolle der Arbeitszeit und der Arbeitszeiterfassung verantwortlich ist. Es könnte also sein, dass wir ganz neue Wege gehen», sagt Balz Stückelberger.
Eines ist jetzt schon klar: Es wird nicht nur eine Lösung für die Banken, sondern «für alle interessierten Branchen gesucht», wie Marie Avet vom SECO erklärt. «Wir fahren hier kein Sonderzügli», bekräftigt auch Balz Stückelberger. «Im Gegenteil, es war von Anfang an die Absicht, dass wir hier Lösungen im Interesse aller Branchen austesten. Wir wollen damit Geschichte schreiben!»

Beim AWA Zürich hat man zum Pilotprojekt eine klare Meinung: «Wir stellen uns einer Einführung der sogenannten Vertrauensarbeitszeit klar entgegen. Stattdessen befürworten wir ein einfaches System, bei dem in allen Branchen, soweit diese dem Arbeitsgesetz unterstellt sind, die Arbeitszeiten gleich dokumentiert werden und wir den Gesundheitsschutz unterstützen beziehungsweise die Arbeitszeiten kontrollieren können. Bei einer Einführung der Vertrauensarbeitszeit wäre dies nicht mehr gewährleistet.»

Unabhängig davon, wie die Lösungen aussehen werden: Sie sollen im Sinne der Rechtsgleichheit für alle Unternehmen gleich verbindlich sein. Das galt eigentlich auch bisher schon. Es gab in der Vergangenheit allerdings einen Schwachpunkt: «Während mehrerer Jahre vor Beginn des Pilotprojekts ‹Arbeits-zeiterfassung im Bankensektor› fanden kaum Arbeitszeitkontrollen in Banken statt», sagt Franz Aschwanden. «Es bestand eine Art Schwebezustand, weil das SECO auf entsprechende Fragen von kantonalen Vollzugsorganen zur ‹Vertrauensarbeitszeit› in gewissen Branchen, keine klare Stellungnahme abgab.» Diese Aussage Aschwandens bestätigt Balz Stückelberger: Auch er habe von einem solchen Schwebezustand gehört, und ergänzt: «Die Banken wurden von den kantonalen Kontrollorganen tatsächlich nur noch vereinzelt kontrolliert.» Über dieses «Stillhalteabkommen» heisst es dagegen in einer schriftlichen Stellungnahme des SECO: «Darüber sind wir nicht informiert. Eine offizielle Weisung des SECO gab es nicht und wäre auch nicht rechtskonform gewesen.»

Arbeitszeiterfassung in der Praxis: Neues Reglement bei der 
SR Technics Switzerland AG

Die SR Technics Switzerland AG, die auf technische Lösungen im Flugverkehr spezialisiert ist, hat im vergangenen Jahr eine Verwarnung des Zürcher Amts für Wirtschaft und Arbeit (AWA) erhalten. Unter anderem wegen der Arbeitszeiterfassung. Konkret gab es im Unternehmen detaillierte Zeitauswertungen jener 1800 Personen, die einem GAV unterstellt sind (zumeist Mitarbeitende, die an Flugzeugen arbeiten). 800 Spezialisten und Manager mit Einzelarbeitsvertrag dagegen erfassten ihre Arbeitszeit nicht.

Welche Massnahmen ergriff die Firma nach der Verwarnung? René Lichtsteiner, stellvertretender Head Human Resources: «Wir haben drei Dinge gemacht. Erstens sensibilisierten wir die Linie für die Thematik. Zweitens gaben wir den Mitarbeitenden die Möglichkeit, Abweichungen von den Arbeitszeitbestimmungen wegen besonderer Umstände (zum Beispiel dringende Reparaturen an Flugzeugen) im Intranet zu erfassen. Drittens erarbeiteten wir ein Reglement ‹Vertrauensarbeitszeit› für jene mit Einzelarbeitsverträgen.»

Innerhalb dieses Reglements existieren zwei Stufen. Stufe 1: Man teilt sich die Monatsarbeitszeit selbst ein. Stufe 2: Wenn man Überzeiten nicht kompensieren kann, bespricht man mit dem Vorgesetzten, ob an Arbeitsorganisation oder -volumen etwas geändert werden soll und ob die Überzeit später kompensiert oder Ende Jahr ausbezahlt werden soll.

Seit 1. Juli 2011 sind die Massnahmen in Kraft. Das HR war zuständig für die Information und Instruierung. Die Umsetzung verantworten die Vorgesetzten. «Die Aufgabe des HR ist nun, zu schauen, wo es in der Praxis Schwierigkeiten gibt», sagt René Lichtsteiner. «Wir werden zum Beispiel intervenieren, wenn die Massnahmen nicht sauber umgesetzt werden oder wenn es Bereiche gibt, bei denen Überzeit nach oben ausreisst.» Lichtsteiner beobachtet im Alltag, dass nicht alle Vorgesetzten das Reglement gleich streng umsetzen, was vereinzelt zu Unzufriedenheit führe.

Doch insgesamt seien die Änderungen sinnvoll: «Anders als früher wird nun über das Thema Arbeitszeit geredet, und wir können mit unserem Reglement vermeiden, dass nach Austritten von Mitarbeitenden hohe Überzeitforderungen kommen.»

Das AWA habe grundsätzlich positiv reagiert, die Massnahmen als «anerkennenswert» bezeichnet, auch wenn noch einzelne Verstösse vorkommen würden. Konkret folgt die neue Regelung natürlich nicht perfekt dem Gesetz, weil die Arbeitszeiterfassung nicht zur absoluten Pflicht erklärt wurde. Dennoch geht René Lichtsteiner davon aus, das Einverständnis zum Reglement zu erhalten, wenn demnächst Besuch vom AWA ansteht. Denn: «In anderen Kantonen wird diese Praxis von den Kontrollstellen akzeptiert.»

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Franziska Meier ist Redaktorin und Produzentin mit langjähriger Erfahrung im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Als Chefredaktorin des Magazins «fit im job» sowie als Fachredaktorin der Zeitschrift «HR Today» hat sie sich auf das Thema «Mensch, Arbeit & Gesundheit» spezialisiert. Zu ihren journalistischen Schwerpunkten gehören insbesondere Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Stressprävention und betriebliches Gesundheitsmanagement. Achtsamkeit praktiziert sie manchmal im Schneidersitz, öfter jedoch auf ihren Spaziergängen rund um den Türlersee.

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