Was Krankheit über Zufriedenheit und Führung verrät
Krankheit ist längst nicht mehr nur medizinisch. Sie ist Kommunikation; manchmal die letzte, die im Unternehmen noch funktioniert.
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7,6 Tage. So viele Krankentage hatte eine durchschnittliche Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer in der Schweiz im Jahr. Im Nachbarland Deutschland liegt der Durchschnittswert bei 14,8 Tagen. Das klingt deutlich höher, doch auch in der Schweiz steigen die Fehlzeiten seit Jahren stetig an. Beide Länder eint ein Muster: Krankheit wird zum kulturellen Indikator, zum stillen Protest gegen Strukturen, die Menschen belasten, statt sie zu befähigen.
Wenn Systeme krank machen
In gesunden Organisationen ist Krankheit ein Zufall. In belasteten Systemen ist sie ein Symptom. Dort, wo Überforderung, Misstrauen oder fehlende Wertschätzung an der Tagesordnung sind, wird das «Ich bleibe heute zu Hause» zur stillen Abstimmung über die Kultur.
Wenn jemand sagt «Mir geht es nicht gut» gibt es mitunter zwei unausgesprochene Optionen: Homeoffice, als Rückzug aus einer toxischen Umgebung, oder eine Krankmeldung. Beides ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Selbstschutz. Manche Führungskräfte deuteten das als mangelnde Belastbarkeit, doch in Wahrheit ist es oft es ein leiser Hilferuf.
Amy Edmondson beschreibt in ihrer Forschung zur psychologischen Sicherheit, dass Teams dann am besten funktionieren, wenn Menschen keine Angst haben, über Fehler, Zweifel oder Überlastung zu sprechen. Wo diese Sicherheit fehlt, verstummt das offene Wort, und das Schweigen wandert nach innen.
Menschen reagieren auf diesen inneren Druck unterschiedlich. Manche werden lauter, andere stiller. Doch wenn sich Unzufriedenheit über Wochen aufstaut, entsteht eine psychologische Dissonanz: das Bedürfnis, gesund zu bleiben, trifft auf ein Umfeld, das krank macht. Die Folge ist nicht immer Kündigung, manchmal ist es eine Krankschreibung.
Krankheit wird dann zur Sprache des Körpers. Burnout, Erschöpfung oder chronischer Stress sind selten nur individuelle Phänomene. Sie sind Spiegel kollektiver Spannungen: zu hohe Erwartungen, unklare Verantwortung, fehlendes Vertrauen.
Die Burnout-Forscherin Christina Maslach nennt das den «Mismatch zwischen Mensch und Organisation». Wenn Werte, Aufgaben oder Arbeitsklima nicht mehr übereinstimmen, entsteht Reibung und Reibung erzeugt Hitze. Diese Hitze spürt man nicht sofort. Sie zeigt sich erst, wenn Energie versiegt und Motivation erlischt.
Deutschland und Schweiz: Zwei Systeme, ein Signal
Während in Deutschland der Krankenstand 2023 mit 14,8 Tagen einen historischen Höchstwert erreichte, meldete die Schweiz laut Bundesamt für Statistik im selben Jahr 7,6 Tage pro Vollzeitbeschäftigtem, ein Anstieg um fast 20 Prozent gegenüber 2020.
Der Unterschied in den Zahlen täuscht: Deutschland zeigt den offenen Zusammenbruch und die Schweiz den schleichenden. Beide spiegeln denselben Trend: steigende psychische Belastungen, sinkende emotionale Bindung, wachsende Erschöpfung.
In Deutschland ist der Druck häufig strukturell, in der Schweiz dagegen subtiler: hohe soziale Anpassungsnormen, Zuverlässigkeit, Pflichtgefühl. Doch beides führt zur gleichen, psychologischen Dynamik: Menschen funktionieren, statt zu fühlen.
Krankheit ist in diesem Sinne kein individuelles Versagen, sondern ein kollektives Feedback. Ein Signal, dass Systeme an ihre Grenzen kommen.
Der wachsende Protest der Stille
Besonders auffällig ist der Anstieg psychischer Diagnosen: Erschöpfung, Burnout, Depression. Das sind keine Ausnahmen, sondern stille Protestformen, Zeichen einer Arbeitswelt, die den Menschen aus den Augen verliert.
Was hier sichtbar wird, ist mehr als ein Gesundheitsproblem. Es ist ein Ausdruck von Unmut: gegen Führung, gegen Strukturen, gegen das «Immer-weiter». Viele Beschäftigte fühlen sich entfremdet von dem, was sie tun, und von denen, für die sie es tun. Sie erleben Führung nicht als Begleitung, sondern als Kontrolle und Kommunikation wird zur Einbahnstrasse. Das Ergebnis: Rückzug. Zuerst emotional, dann körperlich.
Politiker oder Führungskräfte deuten das mitunter als Bequemlichkeit. Sie sagen, die Menschen seien faul oder empfindlich. Doch wer so spricht, übersieht, dass Systeme Menschen prägen.
Was passiert, wenn man einen gesunden Apfel in eine Schale legt, in der bereits faule Früchte liegen? Er beginnt ebenfalls zu verderben und nicht, weil er schwach ist, sondern weil sein Umfeld krank ist. Genauso verhält es sich in Organisationen: Ein toxisches Klima infiziert auch jene, die stabil wirken.
Von der Industriegesellschaft zur Resonanzkultur
Oft liegt die Ursache in der Kommunikationskultur. Wertschätzung wird durch Kennzahlen ersetzt, Zuhören durch Reporting. Das mag in der industriellen Revolution funktioniert haben, doch im Zeitalter von Wissen, Vernetzung und KI ist diese Denkweise überholt.
Früher stand die Maschine im Zentrum der Arbeit, heute der Mensch. Auch in einer automatisierten Zukunft bleibt er die wertschöpfende Kraft: Er denkt, steuert, entscheidet, reflektiert. Selbst wenn Algorithmen Daten verarbeiten, braucht es Menschen, die den Sinn dahinter verstehen.
Führung als Prävention
Gesunde Organisationen messen Erfolg nicht nur in Output, sondern in psychologischer Stabilität. Wenn Mitarbeitende Vertrauen spüren, wenn sie wissen, dass Schwäche kein Makel ist, dann sinken nicht nur Fehlzeiten, dann wächst auch Loyalität.
Eine gesunde Organisation erkennt, dass psychische Belastung kein individuelles Problem ist, sondern eine systemische Verantwortung. Das bedeutet:
- Führungskräfte müssen nicht Therapeut:innen sein, aber sie müssen Zuhörende sein.
- HR-Abteilungen dürfen nicht nur Daten sammeln, sondern Stimmungen verstehen.
- Teams brauchen mehr als Check-ins – sie brauchen ehrliche Gespräche über Energie, Grenzen und Sinn.
Psychologische Sicherheit entsteht nicht durch Policies, sondern durch Verhalten: durch ein Danke, durch eine offene Frage, durch das Gefühl, gehört zu werden.