Neue Wege im Leadership

Wenn die Geschäftsleitung die Wertereflexion nicht ernst nimmt

Das allgemein vorherrschende Niveau an Reflektiertheit auf Ebene der Geschäftsleitung entspricht 
den Erfordernissen der heutigen Zeit nicht. Ein Zustand, der mit Unterstützung des HR korrigiert werden
muss. Denn eine nicht ausreichend reflektierte Führung hat fatale Konsequenzen.

Reflektiertheit in der Führung hängt von 
der Reflexionskompetenz der einzelnen Führungspersonen beziehungsweise eines Gremiums ab und ist erkennbar am Grad der 
gelebten Glaubwürdigkeit, Integrität und 
Souveränität, sowie in der nachhaltigen Entscheidungsqualität.

In einer Studie mit 50 HR-Verantwortlichen(1) in der Schweiz wurde die Reflexionskompetenz von Geschäftsleitungen untersucht. Die interviewten HR-Verantwortlichen beurteilten die vorhandene Reflexionsbereitschaft überwiegend kritisch. Bezüglich Reflexionsfähigkeit  gestand man den Leitungsgremien zwar eine angemessene Abstraktionsfähigkeit und die Fähigkeit zu analytischem Denken zu; hingegen beurteilte man die angewandte Reflektiertheit inklusive der explizit durchgeführten und konsequent umgesetzten Wertereflexion («Erkennen und Auflösen von Wertekonflikten in und zwischen der Innen- und Aussenwelt») als ungenügend. Der hohe Stellenwert der Wertereflexion bestätigte sich in einer Reihe von Folgemeetings mit HR-Verantwortlichen, externen Spezialisten und Topkadern.

Die Ausprägung der Reflektiertheit bei den Leitungspersonen hat weitreichende 
Konsequenzen auf:

1. Strategische Ausrichtung

Besonders bei Entscheiden auf strategischer Ebene erfordert heutzutage der Umgang mit Komplexität und dem rasanten Wandel ein markant gestiegenes Mass an Reflektiertheit und vernetztem Denken. Das Anzapfenkönnen der kollektiven Intelligenz ist zu einem Muss geworden, weil auch Genies, brillante und vielleicht narzisstisch veranlagte CEOs oder GL-Mitglieder nicht mehr in der Lage sind, als Einzelpersonen die Komplexität, Vernetzung und Geschwindigkeit zu meistern.

Dazu gehört die Fähigkeit, als Team die zukünftigen Herausforderungen zu antizipieren, sich ihnen zu stellen. Unter anderem gilt es, die wesentlichen ökonomischen, kulturellen und ethischen Prämissen zu erkennen und persönliche oder gruppendynamische Hemmfaktoren zu überwinden.(2)

2. Produktivität

Umfragen zur Mitarbeiterzufriedenheit oder Aussagen in Coachings und Workshops zeigen eine teilweise besorgniserregende Unzufriedenheit oder gar Misstrauen gegenüber der obersten Leitung auf. Häufige Ursache davon sind neben offensichtlichen strategischen Fehlentwicklungen Wahrnehmungen zur fachlich-sozialen Kompetenz wie 
«abgehoben; haben keine Ahnung, wie das 
Geschäft eigentlich läuft; kein richtiges Team; der Beitrag zum Unternehmenserfolg ist nicht spürbar». Oder auch moralisch-ethische Bedenken seitens der Mitarbeitenden wie 
«Eigennutz steht im Vordergrund; Selbstgefälligkeit; Opportunismus». Derartiges Misstrauen ist fatal, denn die Wirkung von Leitsätzen, Appellen, strategischen Vorgaben, neuen Projekten und Reorganisationen verpufft, und die Führung von oben verliert ihre Kraft.

Der Schaden, der dadurch hervorgerufen wird, entsteht schleichend, wirkt aber nachhaltig und führt bei den Mitarbeitenden häufig zu Gleichgültigkeit, Zynismus, Distanzierung bis hin zur Arbeit nach Vorschrift oder Kündigung.

Die Ursachen für Unzufriedenheit und Misstrauen sind vielfältig. Manchmal fehlt es ganz einfach an der empathischen und glaubwürdigen Kommunikation von oben, was dann zu falschen Einschätzungen und Projektionen führt. Basis der Vertrauensbildung im Unternehmen ist jedoch die (Selbst-)Reflektiertheit der Leitung, die dann als entsprechend glaubwürdig und souverän wahrgenommen wird.

3. Reputation

Unüberlegtes Verhalten und Fehltritte von Top-Führungskräften gelangen heutzutage immer wieder in die Schlagzeilen. Manager und Managerinnen beobachten die sich häufenden Schicksale ihrer Berufskollegen und wissen, dass ihre Entscheide früher oder später einer genauen ethischen Überprüfung durch Dritte oder durch die Öffentlichkeit unterzogen werden. Nicht zu unterschätzen ist auch der Wettbewerbsnachteil einer lädierten Reputation bezogen auf den Arbeitsmarkt und die Talente, die man gewinnen will.

Unternehmen schützen sich gegen Reputations- und andere Schäden mittels der juristischen Compliance und des Code of Ethics/Conduct. Diese legalistischen Vorkehrungen genügen aber nicht, um die Risiken für Reputationsschäden entscheidend zu mindern. Es braucht dazu bei den Leitungspersonen einen Grad an (vor allem ethischer) Reflektiertheit, der es ermöglicht, die persönlichen und systemischen Risiken für die Reputation zu erkennen und mögliche Schäden zu antizipieren.

4. Gesundheit

Die Kosten für fehlende Produktivität, Arbeitsausfälle oder Burnouts können individuell sowie für das Unternehmen sehr hoch ausfallen, wie mittlerweile hinlänglich bekannt ist. Der Umgang mit Leistungsdruck, biografischer Vulnerabilität und Sinndefiziten erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit zur Reflexion auf Werteebene. Häufig geht es darum, die Ursachen zu lokalisieren und mit Hilfe einer fundierten Selbstreflexion die innere Ruhe wiederzufinden («peace of mind»).

Für Programme im Rahmen des Gesundheitsmanagements ist die Wertereflexion (auch ethische Reflexion genannt) besonders relevant, weil die Hauptursachen eines Burnouts einen engen Bezug zur ethischen Entwicklung beziehungsweise zu unerkannten oder verdrängten Wertekonflikten eines Menschen aufweisen.(3)

Nicht souveräne Führung kann ein Indikator für gesundheitliche Belastungen sein. Sie äussert sich zum Beispiel durch folgende Verhaltensweisen:

  • 
reaktiv statt gelassen
  • 
bemüht oder angestrengt statt abgeklärt
  • 
«alles im Griff haben wollen», statt zu Unsicherheit und Fehlern zu stehen

Daneben ist auch die Authentizität wichtig; es braucht eine gesunde Verbindung zwischen Reflektiertheit und Spontanität. Angesichts der weitreichenden Konsequenzen stellt sich die Frage, wie die mangelnde Ausgeprägtheit von Reflektiertheit korrigiert werden kann.

Der Ethics-Check: Eine Analyse
der Reflexionsbereitschaft

Es gibt ein Instrument, das eine ideale Ausgangslage für optimale Reflexionsbereitschaft schafft: Im vertraulichen Ethics-Check wird unter anderem das bestehende Niveau an Reflexionsbereitschaft und Reflexionsfähigkeit eruiert. Ebenso werden die hemmenden Faktoren analysiert, welche dann individuell und gezielt angegangen werden können. Das Vorgehen im Ethics-Check, mit einem persönlichen Interview plus Auswertungsgespräch, eignet sich ganz speziell auch zur Förderung der Reflektiertheit bei den einzelnen Mitgliedern von Leitungsgremien.

Wie die Reflexionsfähigkeit 
entwickelt werden kann

Nach einem Ethics-Check findet die eigentliche Reflexion zum Beispiel im Rahmen eines Coachings statt. Wichtig dabei ist die Fähigkeit, Wertedissonanzen nicht nur in der Aussenwelt, sondern auch zwischen der eigenen Innen- und der Aussenwelt wahrzunehmen.(4) Diese Dissonanzen gilt es zu überwinden, eine Art «ethical alignment» zu erreichen, was für die Reflexionspartner befreiend ist und neue Optionen eröffnet.

Dem Modell «Striving for Integrity» (siehe Grafik) liegen drei Werthaltungen zugrunde, welche in Verbindung mit Reflektiertheit sehr hilfreich sind, Integrität und Glaubwürdigkeit zu vermitteln: Empathievermögen, Ehrlichkeit/Offenheit und das Streben nach Erkenntnisfortschritt. In Gruppen-Coachings zeigt sich immer wieder, wie anspruchsvoll es ist, diesem Dreiklang zu folgen, zum Beispiel wenn jemand in einer Diskussion das Gegenüber gar nicht verstehen will und deshalb nicht genau zuhört respektive nie nachfragt, wenn Opportunismus beziehungsweise Eigennutz kaschiert werden oder wenn statt Erkenntnisfortschritt das Sichdurchsetzen zählt.

Die Rolle des HR wird stärker
anhand von Reflexion gemessen

HR in der Rolle als Führungsentwickler wird sich in der Zukunft noch stärker daran messen lassen müssen, inwiefern es mit seiner Entwicklungslandschaft einen echten Beitrag zu Strategieumsetzung, Produktivität, Reputation und Gesundheit erbringen kann. Da Reflektiertheit einen wichtigen Treiber für diese Erfolgsfaktoren darstellt, ist zu überlegen, wie bestehende Beratungsangebote und Programme (zum Beispiel für Executives, High Potentials oder im Gesundheitsmanagement) sinnvoll ergänzt werden können.
In der Rolle der klassischen HR-Beratung kann HR die eigene Kompetenz durch hohe Reflektiertheit noch wirkungsvoller und glaubwürdiger einbringen, vor allem auch im Sinne eines klaren und allseitig akzeptierten Rollenverständnisses, welches die wesentlichen ökonomischen, funktionsbezogenen, kulturellen, ethischen und systemischen Prämissen berücksichtigt. Auch der nachhaltige Erfolg einer HR-Strategie hängt wesentlich davon ab, wie reflektiert HR (zum Beispiel als Business-Partner) wahrgenommen wird.

  • (1) 
Studie von Constantin Peer und Elke Schlehuber von Peer Communication AG. www.peercommunication.ch/publikationen
  • (2) 
C. Peer: Reflexion der Prämissen ist auf der Top-Management-Ebene ein Muss, HR Today 10,/2009
  • (3) 
Stuart D. G. Robinson: Unternehmenskultur, Ethik und Gesundheit, in: Erfolg/Gesundheit, Ausgabe 8, Sept. 2012
  • (4) 
Stuart D. G. Robinson: Interethische Kompetenz, S.4
     
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Constantin Peer begleitet seit 
25 Jahren Unternehmen, Teams und Einzelpersonen im In- und Ausland. Er ist ausserdem Dozent in der Core-Faculty des ZfU und an verschiedenen Fachhochschulen.  www.peercommunication.ch

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