Im Gespräch

«Wenn wir lediglich auf Sicherheit aus sind, finden wir nur schwerlich Sinn»

Wie verleiht man der Arbeit Sinn? Verfügen wir alle über dieselben Voraussetzungen auf unserem langen und manchmal mühsamen Weg dorthin? Der weltweit gefragteste HR-Spezialist Dave Ulrich hat gemeinsam mit seiner Frau Wendy 
Ulrich, Psychologin und Fachfrau für persönliche Entwicklung, ein Buch über sinnvolle Arbeit verfasst. Ein Interview.

Dave und Wendy Ulrich haben ein gemeinsames Werk* über sinnvolle Arbeit publiziert. Dave Ulrich hat bereits rund zwanzig Bücher über den Beitrag der HR an den Unternehmenserfolg herausgegeben und bereist die Welt als Unternehmensberater. Seine Frau ist seit zwanzig Jahren als Psychologin tätig und Autorin mehrerer Publikationen über persönliche Entwicklung. Das jüngste, gemeinsame Werk des Ehepaars ist durchtränkt von umwerfendem Optimismus – ganz im Sinne der «Lehre» von Dave Ulrich. Das mit zahlreichen Fallbeispielen und Brainstorming-Übungen angereicherte Buch beleuchtet die sieben Schlüsselfaktoren, die es Führungskräften (dem Zielpublikum der Ulrichs) ermöglichen, ihren Teams zu sinnvoller Arbeit zu verhelfen. Wir haben dem Ehepaar Ulrich per E-Mail einige Fragen gestellt, die sie uns von Florida aus beantwortet haben.

Ausgangspunkt historischer Forschung sind immer aktuelle Problemfelder. Was hat Sie dazu bewogen, ein Buch über sinnvolles Arbeiten zu schreiben?

Dave Ulrich: Bei meinen Recherchen ebenso wie bei meiner historischen Forschung gehe ich immer von persönlichen Vorlieben aus. Ich würde meine Frau Wendy und mich als Sinn-Süchtige bezeichnen, denn wir sind stets darauf ausgerichtet, einen Sinn und Zweck in unserem Berufsalltag zu finden. Aber unsere Suche nach Sinn bildete nicht den Ausgangspunkt unseres Buches. Wir haben es vor der Finanzkrise begonnen. Die hat viele Unternehmen veranlasst, das Engagement der Mitarbeitenden mit neuen Methoden zu befeuern. Währenddessen ging die Suche nach Sinn weiter. Die Kosten für die emotionale Gesundheit stiegen in überdurchschnittlichem Ausmass. Das Engagement der Mitarbeitenden ist kleiner geworden, und es ist ein politischer, aber auch ein sozialer und emotionaler Missstand auszumachen. Die Suche nach Sinn geht also weiter, und das berufliche Umfeld gehört zu den Schlüsselbereichen dieses Prozesses.

Wendy Ulrich: Auf persönlicher Ebene haben wir kürzlich ein grosses Mandat abgeschlossen; unser jüngstes Kind hat das Elternhaus verlassen und wir sind auf die andere Seite des Landes umgezogen. Im Laufe der letzten Jahre hatte ich die Möglichkeit, meine Prioritäten neu zu definieren und mir quasi noch einmal die Frage zu stellen: Was möchte ich tun, wenn ich einmal gross bin? Ich habe dabei sehr schnell erkannt, dass mir eine Pensionierung kaum dabei helfen würde, ein sinnvolles Leben zu führen. Die Arbeit, mit all ihren Herausforderungen und Unzulänglichkeiten, ist jener Bereich, aus welchem die 
meisten von uns einen Grossteil an Identität sowie an Sinn und Zweck schöpfen.

Sie unterstreichen, wie wichtig es für die Menschen ist, einen Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Für viele geht es jedoch schlicht darum, eine Familie zu ernähren und zu überleben. Ist es vor einem solchen Hintergrund nicht verwegen, die Frage nach dem Sinn zu stellen?

Dave Ulrich: Die Arbeitswelt ist ein 
universeller Schauplatz, auf dem sich die 
universelle Suche nach Sinn abspielt. Selbstverständlich finden wir auch in unserem 
Privatleben Sinn, in unseren Hobbys, in unseren sozialen Beziehungen sowie in unserem Engagement auf Vereins- und Gemeinde
ebene. Die Arbeit macht aber einen immer wichtigeren Teil unseres Alltags aus. Und wenn wir in der Arbeit Sinn finden, so beeinflusst dies auch andere Aspekte unseres 
Lebens positiv. Es gibt Leute, die empfinden Arbeit als lästige Pflicht, die es zu ertragen gilt. Wenn aber Mitarbeitende in ihrer Arbeit einen Sinn sehen, so werden sie produktiver und sozial besser eingebunden.

Sie sagen, es gebe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute sei, dass sich auch in hoffnungslosen Situationen immer ein Sinn einstelle. Die schlechte wiederum sei, dass wir «uns durch diesen Prozess der Sinnsuche hindurcharbeiten müssen». Ist es nun so, dass sich einigen der Sinn quasi auf natürliche Weise erschliesst, dass es also bessere und schlechtere «Sinn-Erarbeiter» gibt?

Dave Ulrich: Es ist tatsächlich so, dass es einigen Menschen besser gelingt, optimistisch zu bleiben und einen Sinn-Überfluss in ihrem Leben zu finden. Für die anderen ist es aber möglich, die Kunst des Sinn-Überflusses zu erlernen. In unserem Buch präsentieren wir verschiedene Methoden, die das Sinn-Suchen erleichtern; sie sollen Führungskräften als Kompass dienen, um ihr Arbeitsumfeld entsprechend anzupassen und bessere Sinn-Stifter zu werden.

Wendy Ulrich: Jene, die mit der Sinn-Frage am besten klarkommen, sind oft Menschen, die selbst auf ihrem Weg zur Sinn-Findung Hilfe erfahren haben. Ein Elternteil, ein Lehrer, ein Vorgesetzter, ein Mentor oder ein Freund hat ihnen dabei geholfen, in schwierigen Momenten nicht lockerzulassen und an ihre Fähigkeiten zu glauben. Indem wir mit anderen unseren Sinn-Suche-Prozess teilen, helfen wir ihnen bei ihrer eigenen Suche.

Sie nennen vier Schlüsselfaktoren, die den Menschen helfen, Sinn in ihrer Arbeit zu finden (Vision, Umsetzung, Empowerment und Beziehung). Doch diese vier Faktoren werden in Unternehmen nur selten hochgehalten; vielmehr wird Performance, Gewinn und Kundenzufriedenheit Priorität eingeräumt. Empfehlen Sie den Führungskräften damit nicht unrealistische Zielsetzungen?

Dave Ulrich: Jedes Unternehmen hat eine Mission, eine Vision, Aspirationen und Strategien. Diese eignen sich durchaus dazu, den Mitarbeitenden Sinn zu vermitteln. Die Führungskraft, welche auf Mitarbeitende zählen kann, die ihre Motivation aus einer Vision schöpfen, wird sich darum bemühen, ihnen ein Umfeld zu bieten, in welchem das Lernen und die Vision Schlüsselelemente des Erfolgs ihrer Abteilung darstellen. Mitarbeitende, welche sich durch die praktische Umsetzung motivieren lassen, brauchen sehr konkrete Zielvorgaben (zum Beispiel beim Absatz). Die Mitarbeitenden finden mehr Sinn, je stärker sich ihre persönliche Raison d’être mit jener ihres Unternehmens deckt.

Marguerite Yourcenar, die französische Schriftstellerin, hat einmal darauf hingewiesen, dass wir einerseits die Folter-
methoden und die schrecklichen Lebensbedingungen der Armen im Mittelalter 
verurteilen, dabei aber vergessen, dass der moderne Mensch Fabriken geschaffen hat, in denen die Leute ihr Leben opfern, um sinnlose Produkte herzustellen. Da ist schon etwas dran, finden Sie nicht?

Wendy Ulrich: Zweifellos arbeiten heute viele Menschen sehr hart dafür, um Produkte herzustellen, die einen sehr geringen bleibenden Wert haben. Doch selbst unter den widrigsten Bedingungen sind Menschen in der Lage, Sinn zu finden. Demgegenüber ist es aber ebenso eine Tatsache, dass überaus privilegierte Leute keinen Sinn im Leben finden können. Anzumerken wäre noch, dass nicht nur die Armen schlecht bezahlte und unbefriedigende Arbeit verrichten. Doch Letztere haben keine Wahl, was leider gewisse Unternehmen dazu verleitet, dies auszunützen.

Dave Ulrich: Man muss aber auch klar sehen, dass moderne Unternehmen heute häufig mehr zur Verbesserung der Lebensumstände der  Armen und zur Erhöhung des Lebensstandards beitragen – auch in den ärmsten Ländern – als Wohltätigkeitsorganisationen und Regierungen. Wir setzen unsere Bemühungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen der am meisten Benachteiligten fort. Und jene, die sich in einer Sackgasse wähnen, lernen dabei vielleicht auch, dass es sogar für sie möglich ist, einen Sinn in ihrer Arbeit zu finden – auch wenn sie demoralisierend ist.

Sie fordern die Führungskräfte dazu auf, verstehen zu lernen, wie sich eine Arbeit auf einen Angestellten auswirkt. Was meinen Sie damit?

Dave Ulrich: Wir sind alle fähig, eine Arbeit zu finden, aus der wir Energie schöpfen können. Eine Bekannte von uns möchte zum Beispiel in einer Autobahnzahlstelle arbeiten. Sie meint, das würde ihr vor allem deshalb gefallen, weil sie dann nicht rund um die Uhr an ihren Job denken müsste, sondern «die Arbeit bei der Arbeit zurücklassen könnte». Mit der Zeit würde sie ihren Job so sehr beherrschen, dass sie ihre «Komfortzone» nicht mehr verlassen müsste ... Für viele von uns wäre 
diese mühsame Arbeit dagegen absolut demoralisierend. Die Führungskräfte müssen erkennen, was die Angestellten an ihrer Arbeit schätzen, und sicherstellen, dass deren Aufgabenbereich ihren Vorlieben Rechnung trägt.

Für Sie sind Spass und Humor wichtige Anteile an der Arbeit. Nur schade, dass viele CEOs keinen Gefallen an Pingpongtischen und Entspannungszonen finden ...

Dave Ulrich: Führungskräfte wollen zuweilen eine Aktivität messen können, Resultate generieren. Oft üben solche Chefs zu viel Kontrolle auf die Mitarbeitenden aus und schränken deren Handlungsspielraum ein; so schränken sie aber ebenso ihre Fähigkeit ein, Sinn zu verleihen. Effiziente Führungskräfte sind zwar sehr klar in ihren Zielvorgaben, gewähren jedoch ihren Angestellten viel Freiheit darin, wie sie diese erreichen wollen. Wenn die Angestellten den ganzen Tag Pingpong spielen oder in der Cafeteria sitzen, werden sie die Zielvorgaben nicht einhalten können. Wenn sie aber die Ziele gemeinsam angehen und den Weg dahin frei wählen können, sind sie produktiver. Am Arbeitsplatz gemeinsam Spass zu haben, wirkt erfrischend – und zeitigt eine nachhaltige Produktivität.

Welcher Rat hat Ihnen persönlich am meisten dabei geholfen, Ihrem Berufsleben Sinn zu verleihen?

Dave Ulrich: «Setze dir nur realistische Ziele.»

Wendy Ulrich: Ich habe einmal folgende Frage gelesen: «Was würden Sie aus Ihrem Leben machen, wenn Ihnen der Erfolg garantiert würde?» Da habe ich realisiert, wie sehr mich die Angst davon abhielt, wirklich das zu machen, was ich eigentlich in meinem Leben machen wollte. Jede Arbeit umfasst einen Anteil, den wir nicht gerne machen und für den wir nicht sehr begabt sind. Wenn es uns gelingt, auf jene Aufgaben konzentriert zu bleiben, die wir gerne ausführen, und wenn wir bereit sind, Risiken einzugehen, um uns zu verbessern, dann wird unser Berufsleben 
sinnerfüllt. Wenn wir dagegen auf Sicherheit 
aus sind und nur das tun, was vorgeschrieben wird und einfach ist, können wir uns persönlich nicht weiterentwickeln und finden nur schwerlich einen Sinn.

Buchtipp

Wendy und Dave Ulrich: The Why of Work. Mc Graw Hill, 2010, 286 Seiten, CHF 49.90

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Marc Benninger ist Chefredaktor der französischen Ausgabe von HR Today.

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