Bern (sda). «Drei von vier Führungskräfte sprechen psychische Auffälligkeiten nicht direkt an, wenn sie diese erstmals wahrnehmen. Sie warten ab, bis sie eine Leistungseinbusse des Arbeitnehmenden klar belegen können», sagte Niklas Baer, Leiter der Fachstelle für Psychiatrische Rehabiliation der Psychiatrie Baselland, in Bern.
Gehemmte und hilflose Chefs
Auch die Chefs hätten eben «Hemmige». Baer hat im bernischen Oberaargau eine Befragung unter Führungskräften von 300 KMU zu deren Umgang mit psychischen Problemen am Arbeitsplatz durchgeführt. Die Ergebnisse wurden am Freitag vorgestellt. 90 Prozent der Befragten seien bereits mindestens einmal mit der Thematik konfrontiert worden, aber nur ein Viertel habe eine Schulung dazu besucht. Ein weiterer Befund: Viele Chefs sind selbst mit der Situation überfordert. Ärger, Frust und Hilflosigkeit, Konflikte mit den Teams und den eigenen Vorgesetzten bis hin zu Schlaflosigkeit, plagten die Chefs.
Probleme offenlegen
Klärende Gespräche mit den Betroffenen, eine Offenlegung der Probleme auch gegenüber der Arbeitskollegen, habe in 90 Prozent der Fälle den Betroffenen nicht geschadet. Und in 70 Prozent der Fälle, in denen dies nicht geschah, hätte es laut den Chefs vermutlich geholfen, sagte Baer.
Wenn psychische Probleme am Arbeitsplatz auffallen, ist eine Krankheit meist schon recht weit fortgeschritten, sagte Thomas Ihde von der Stiftung Pro Mente Sana. So zeige sich eine Erschöpfungsdepression (Burnout) zuerst innerhalb der Familie, etwa wenn der Papa immer öfter wegen des Kinderlärms genervt sei.
Ein frühes Ansprechen am Arbeitsplatz ist deshalb umso wichtiger. Der Erhalt des Arbeitsplatzes wiederum ist gerade für psychisch kranke Menschen von grosser Bedeutung, wie der Zürcher Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger (FDP) sagte. Dieser gebe Identität, Struktur im Tagesablauf und ein Auskommen.
Grosse Kosten
Die jüngste Schweizerische Gesundheitsbefragung habe gezeigt, dass knapp ein Fünftel der Bevölkerung sich durch psychische Probleme beeinträchtigt fühle. Und jeder Vierte oder Fünfte sei mindestens einmal im Leben von einer schweren Depression betroffen, sagte Heiniger.
Er verwies auch auf die volkswirtschaftlichen Kosten von psychischen Erkrankungen: Gemäss Schätzungen der Gesundheitsdirektorenkonferenz belaufen diese sich auf jährlich 7,8 Milliarden Franken. Die Schätzung der OECD für die Schweiz liegt gar bei 19 Milliarden Franken. Allein bei der IV wurden zuletzt 43 Prozent der Neurenten wegen psychischer Erkrankungen gesprochen, wie aus der Mitteilung zur Kampagne hervorgeht. Dies zeige, wie wichtig eine Enttabuisierung sei.
Hier setzt die Kampagne mit Plakaten und Broschüren an. Mithilfe von bereits enttabuisierten Themen wie Schlafstörungen, Stress, Burnout und Mobbing sollen Arbeitgeber wie Arbeitnehmer, Gesunde wie Kranke zum Reden über Angststörungen oder Depressionen ermuntert werden. Auf der Internetseite sind Gesprächstipps zu finden.
Arbeitgeber in der Pflicht
Damit ein Arbeitnehmer psychisch gesund bleibt, können Arbeitgeber viel tun, sagte Ihde von Pro Mente Sana. Das kanadische Programm «Guarding Minds» identifiziere und bewerte 13 Faktoren, die die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz beeinflussen. Die Arbeitsmenge steht dabei erst auf Rang neun. Weit höher ins Gewicht fallen Betriebsklima und Führungskultur innerhalb des Unternehmens.
Wichtigster Faktor ist ein barrierefreier Zugang zu Hilfe. Dazu müssten innere Barrieren beim Betroffenen wie äussere Barrieren abgebaut werden. Eine äussere Barriere in der Schweiz seien zu wenige Therapeuten für psychische Probleme am Arbeitsplatz.
Die Kampagne zu psychischen Problemen am Arbeitsplatz knüpft an jene von 2014 an, bei der es allgemein um das Tabu psychische Krankheiten gegangen war. An der diesjährigen Kampagne beteiligen sich erneut Bern, Zürich, Luzern und Schwyz sowie neu die Kantone Aargau, Graubünden, Solothurn und Thurgau. Neben Pro Mente Sana sind auch weitere Gesundheitsorganisationen dabei.