Interview mit Karpi

«Ab dem Moment, in dem ich das Haus verlasse, mache ich Kompromisse»

Karpi ist der Schweizer Komiker der Stunde. Aber nicht nur das: Er ist Moderator, Regisseur, KI-Dozent – und einer der prominentesten Schweizer mit ADHS. Ein Gespräch zwischen zwei Menschen mit ADHS über die Arbeitswelt – und wie und warum sie neurodivergenten Menschen gerechter werden muss.

HR Today: Karpi, hast du manchmal das Gefühl, dass die Arbeitswelt grundsätzlich nicht für neurodivergente Menschen gemacht ist?

Karpi: (nonchalant) Ja. Aber sie bewegt sich immer mehr in unsere Richtung!


Findest du wirklich?

Ja! (lacht diabolisch) 


Wir haben gewonnen!

(lacht) Unser Schaden ist sehr kompatibel mit dem aktuellen Schaden der Welt. Unsere Nervosität ist kompatibel mit dem immer schneller werdenden News Cycle. Social Media wirkt wie für uns gemacht. Warum wir auf diesen Plattformen sind, ist mir klar. Bei den anderen aber nicht.


Spricht man im Arbeitskontext über Neurodivergenz, geht es oft um Anpassungsstrategien und Resilienz. Anpassung ist eine der Hauptleistungen, die man von neurodivergenten Menschen erwartet. Wie machst du das?

Ich weiss nicht, ob ich überhaupt Strategien verfolge. Ich bin einfach so, wie ich bin. Aber ich merke, dass gewisse Dinge in meinem Leben rückblickend Sinn ergeben: Ich hatte noch nie eine Festanstellung. Ich habe immer frei gearbeitet und hatte immer mehr als einen Boss. Das heisst, ich mache mich nicht abhängig. Tut jemand blöd, kann ich einfach gehen.


«Wenn mich meine eigene Arbeit langweilt, bevor es auch das Publikum langweilig findet, ist das förderlich.»
– Karpi

Resilienz braucht man vor allem, wenn man nicht neurodiv-, wie sagt man? (pausiert) Wenn man kein Muggel ist. (lacht) Wir ADHSler aber sind von Haus aus resilient und anpassungsfähig, weil wir sonst untergehen. Ab dem Moment, in dem ich das Haus verlasse, mache ich Kompromisse.


Du hast in einer Kolumne geschrieben, du kannst ADHS nicht weiterempfehlen. Manchmal wird ADHS aber als «Supekraft» glorifiziert.

Logisch schreibt man bessere Witze, wenn man selbst der Erste ist, der den Cringe spürt und findet: «Okay, das haben wir gehört, jetzt probieren wir etwas Neues». Wenn mich meine eigene Arbeit langweilt, bevor es auch das Publikum langweilig findet, ist das förderlich.
 

Der Schweizer Komiker Karpi (Patrick Karpiczenko) steht lachend vor einem dunklen, leicht ramponierten Hintergrund. Er trägt ein schwarzes Jackett über einem weißen Hemd, die Augen sind geschlossen, das Haar wild zerzaust – ein Moment entspannter, ehrlicher Freude.

Du schreibst aber auch, Langeweile sei für Menschen mit ADHS Folter. Offensichtlich scheint sie aber auch Antrieb zu geben. Ein Balanceakt, denn für Menschen mit ADHS gibt es auch das Gegenteil: Überstimulation – es ist schlicht zu viel los.

Ja, dann ist man blockiert und macht wirklich fast nichts. Das ist das Furchtbare. Ich muss heute drei grundverschiedene Dinge tun und das stresst mich endlos. Endlos.


Manche Menschen mit ADHS kennen den sogenannten «Waiting Mode». Du hast einen Termin um 13 Uhr, noch zwei Stunden Zeit und kannst nichts erledi–

(unterbricht) Ja, ja, ja! Absoluter Horror. Hingegen: Wenn man an einem Projekt arbeitet, die Deadline in einer Woche ist und man sich den Alltag bis dahin freigeschaufelt hat – das ist das bestmögliche Szenario. Deadline ohne Verzetteln. Druck und trotzdem Zeit. Damit man dann zwei Tage lange nichts macht, am Ende dafür zwei Tage Arbeit an einem Nachmittag.


Was findest du im Arbeitskontext besonders fürchterlich – was ist mit ADHS inkompatibel?

Sitzungen, die ich nicht brauche. Und Anwesenheiten im Büro. Wenn jemand unbedingt eine Sitzung will, werde ich weniger Zeit mit dem Produkt verbringen. Also, Präsenzzeiten in Büros (gestikuliert wild): Nein! Dann mache ich einfach nichts. Wofür ich auch null Toleranz habe, sind inkompetente Führungsleute.


Weil eine Idee nicht durchdacht ist?

Ja, oder einfach dumm. Wenn etwas keinen Sinn macht, habe ich keine Toleranz dafür. Aber es ist lustig: Es ist fast unmöglich für mich, einen Praktikanten zurechtzuweisen – auch von der Machtsituation her.


«Der Elefant im Raum, den man nicht ansprechen darf? Den müssen wir ansprechen. Wir sind geborene Bullshit-Detektoren. Und gleichzeitig auch geborene Bullshitter. Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen.»
– Karpi

Sie sind meist neu und haben tatsächlich noch keine Ahnung. Aber wenn ein Chef einen Seich erzählt, dann muss ich ihm das sagen. Ein guter Chef ist das Beste auf der Welt, klar. Aber ein schlechter? Da kann man es direkt sein lassen.


Was macht für dich denn eine gute Führungsperson aus?

Der Klassiker: Lead by example. Wissen, wo man helfen kann. Umstände schaffen, unter denen man arbeiten kann. Meine guten Lehrer an der Kunsthochschule haben gewusst, wann sie aus dem Weg gehen und wann sie helfen müssen. 90 Prozent aus dem Weg gehen, 10 Prozent helfen.


Das mit dem Helfen ist ja meist so ein Ding.

Da gibt es gerade bei grösseren Firmen immer wieder schwierige Momente, in denen man mal bei der Chefin anklopft und konkret um Hilfe bittet, weil man das Problem über Monate eruiert hat und weiss, wo es klemmt, das dann versucht, bei der Führungsperson anzubringen – die ein Machtwort sprechen kann. In fast allen Fällen hat das nicht funktioniert. In solchen Momente kündige ich mental.


Führungspersonen wollen solche Dinge vielleicht oft gar nicht hören. Sie wollen, dass du sie ausführst.

Ja, aber das Gerechtigkeitsempfinden ist bei uns Menschen mit ADHS sehr hoch. Das ist sowohl fantastisch als auch furchtbar. Wenn ein Elefant im Raum steht, den man nicht ansprechen darf? Dann müssen wir ihn ansprechen. Wir sind geborene Bullshit-Detektoren. Und gleichzeitig auch geborene Bullshitter. Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen.

Der Schweizer Komiker Karpi (Patrick Karpiczenko) steht in einem grauen Anzug mit weißem Hemd und blauer Krawatte in einer wüstenartigen Landschaft, vermutlich der Mojave-Wüste. Er blickt direkt in die Kamera, leicht lächelnd, das Sonnenlicht wirft klare Schatten auf sein Gesicht.


Müsste man Führungspersonen also auf ADHS schulen, damit es eben nicht zu solchen problematischen Situationen kommt?

Du musst nicht in ein ADHS-Seminar gehen, um deine Leute richtig zu führen. Eigentlich kann man das ja alles unter «basic human decency» [grundlegende menschliche Anständigkeit] zusammenfassen. Dass man die Mitarbeitenden fragt, wie es ihnen geht, wie man ihnen helfen kann, fragen, wo es klemmt, was sie sich wünschen. Ich weiss nicht, ob mich ein Chef jemals gefragt hat, wo er helfen kann. Eigentlich ist das ja sein Job. Umstände schaffen, damit seine Leute werken können. Gute Kommunikation macht vieles möglich.


Gibt es denn Möglichkeiten, wie Unternehmen von den, sagen wir mal, positiven Seiten von ADHS profitieren können?

Möchte eine Firma gezielt ADHSler ansprechen, sind das die gleichen Strategien, die Unternehmen heute anwenden müssen, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. All das, was für uns einen Arbeitsplatz attraktiv macht, macht den Arbeitsplatz auch attraktiver für jemanden, der vielleicht lukrativere Angebote hätte: Tatsächlich auf die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingehen, auf sie hören, ihnen flexible Arbeitsmodelle ermöglichen und ihnen auch Verantwortung geben.


Wie du vorhin schon gesagt hast: «Basic human decency».

(ruft) «Basic human decency»! Hören, schauen (lacht) und erst dann laufen. Dann braucht es keinen Zauberer.


Strukturen und Freiraum sind Gegenspieler und gleichzeitig die grössten Freunde und Feinde von ADHSlern. Wann fühlt sich Struktur und Routine für dich befreiend an?

Wenn es dabei um echte Bedürfnisse anderer Menschen geht. Wenn ich einen Film drehe und mir die Kostümleute sagen, sie müssen bis morgen wissen, was die entsprechenden Figuren tragen sollen, weil sie sonst nicht fertig werden – das finde ich super. Es ist ein echtes, relevantes Bedürfnis eines Kollaborateurs, der mir den Tarif durchgibt. So ist die Realität: «Wenn du zu spät bist, habe ich schlaflose Nächte!» Geht es hingegen um virtuelle Dinge und Firmen sagen mir, sie bräuchten etwas bis morgen und ich dann realisiere, nein, sie brauchen das erst in einem Monat, sie aber einfach mal morgen gesagt haben, damit irgendjemand in die Ferien gehen kann oder es auf irgendeinem Sheet abgehakt ist – das ist das Gegenteil davon, gewissenhaft relevante Ziele und Bedürfnisse zu kommunizieren.


Wenn wir schon dabei sind, Dinge zu unterscheiden: Vielen ADHSlern fällt es schwer, festzustellen, ob sie jetzt einfach eine Pause machen oder ob sie sich gehen lassen, prokrastinieren. Wie erkennst du das?

Nicht.


Nicht?

Nie. 


Ist das denn nicht relevant?

Für meine persönliche Gesundheit wäre es das. Bei mir ist Prokrastination von heute immer der Job von morgen. Immer. Ich habe das jetzt langsam erkannt – und das hilft mir. Aber: Meine Prokrastination war bisher immer der Zeit voraus und hat immer ein fantastisches Business abgegeben.


«Chefs müssen aufhören zu denken, Arbeit passiere nur, wenn man vor Ort ist, Arbeit passiere nur, wenn sie auch nach Arbeit aussehe.»
– Karpi

Es würde für den Chef absolut Sinn machen, genau hinzuhören, was ich gerade am Kücheln bin und zu schauen, wie man das in den Alltag oder ins Büro integrieren könnte. 


So halst man sich bisweilen auch selbst mehr Arbeit auf. Obwohl eigentlich niemand danach gefragt hat.

Alle Chancen, die ich beim Film erhalten habe, haben mich in Positionen gebracht, wo ich kreativ gestalten konnte. Das ist nicht, weil ich so gut bin, sondern weil meine Chefs nicht gewusst haben, wie wichtig diese Position ist. Mir war selbst oft nicht bewusst, wie wenig ich weiss. Das heisst, ich bin aus jugendlicher Naivität in all diese Positionen reingeschlittert, aber auch, weil meine Chefs nicht wussten, wie relevant sie sind.


Apropos «Was macht der eigentlich da?» – In einem Interview mit dem Berner Magazin «Hauptstadt» hast du gesagt, wenn es früher nicht ging, hättest du den Raum gewechselt und eine halbe Stunde lang die Tapete angeschaut. 

Ja, das habe ich auch so gemeint.


Ich kann das nachvollziehen. Ich gehe dann manchmal spazieren. Im Kopf aber arbeitet es. Was braucht es, damit Chefs verstehen, dass das für Menschen mit ADHS produktiv sein kann?

Vertrauen. Freiheit. Empathie. All die guten Sachen.


Wieder: Basic human decency.

Nach einer Weile werden sie verstehen, dass deine Produkte immer kommen, deine Arbeit gemacht ist. Auch wenn die Person immer zu spät kommt.

Oder während der Arbeit komisches Zeug schaut. Oder komische Musik hört. Oder immer rumläuft und nie am Arbeitsplatz ist. 


In ähnlicher Weise hast du auch mal geschrieben, dein ADHS sei absolut unkontrollierbar. Daraus könnten HR-Abteilungen auch schliessen, Menschen mit ADHS einzustellen, sei ein Risiko.

Gut, aber das kannst du bei allen sagen.


Stimmt.

Alle Leute sind ein Risiko, alle Leute haben Lebensumstände, äussere wie innere. HR-Abteilungen und Chefs müssen aufhören zu denken, Arbeit passiere nur, wenn man vor Ort ist, Arbeit passiere nur, wenn sie auch nach Arbeit aussehe. Wenn du dein System und deine Strukturen zu eng baust, wirst du jene Leute vertreiben, die besonders sind – besonders gut, besonders anders, die helfen, dein Business längerfristig am Leben zu behalten.


 

Zur Person

Patrick «Karpi» Karpiczenko ist Komiker, Regisseur und Autor für Theater, Film, Fernsehen. Unter anderem war er einer der zentralen Köpfe hinter der SRF-Late-Night-Show «Deville». Zuletzt moderierte er auch den Schweizer Filmpreis. Ausserdem ist er Dozent und Keynotespeaker zum Thema KI.

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Porträt einer Person mit mittellangem, leicht gewelltem Haar und Bart, vor einem neutralen, strukturierten Hintergrund. Die Person trägt ein Hemd mit kleinen Punkten, schaut leicht zur Seite und lächelt subtil. Das Bild ist in Schwarz-Weiss gehalten.

Robin Adrien Schwarz ist Online-Redaktor bei HR Today. Er befasst sich vor allem mit Themen am Überschneidungspunkt von Politik, Gesellschaft und Technologie. rs@hrtoday.ch

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