«Begehrte Profile suchen sich den Chef aus, nicht umgekehrt»
Jan Ammermanns unkonventioneller Werdegang vom Jurist zum HR-Chef der HGC zeigt, dass Karrierewege selten linear verlaufen. Er versteht sich als Bindeglied, das Vertrauen schenkt – nicht als Kontrolleur.

Der HR-Weg ist oft unvorhersehbar und voller wichtiger Abzweigungen. (Bild: Aniela Schafroth)
Wir treffen unsere Porträtperson – Jan Ammermann, Head of HR der HG Commerciale (HGC) – aus fotografischen Gründen für einmal nicht in ihrem Büro, sondern in den Ausstellungsräumlichkeiten nahe des Escher-Wyss-Platzes in Zürich. Auf einer riesigen Fläche ist hier zu sehen, was die Schweizer Baumaterial- und Baustoffhändlerin an Keramik, Naturstein, Parkett, Laminat, Vinyl, Designböden und Kunststein im Sortiment führt. Natürlich ist dies nur ein kleiner Teil ihres Angebots: Die HGC führt fast alles, was das Bauhandwerker-Herz begehrt, von Entwässerungsrinnen über Mörtel bis hin zu Baumaschinen und Arbeitsbekleidung.
Es ist früh am Morgen, und die Kundschaft tröpfelt noch spärlich herein. Ideal, so wird niemand vom Fotoshooting gestört. Ammermann zeigt sich bereits prima gelaunt – meist tritt er seinen Arbeitstag schon vor 7 Uhr an. «Frühsport ist immer gut», sagt er lachend, als ihn die Fotografin bittet, sich im Schneidersitz auf eine Reihe von Bodenplatten zu setzen. Und steht noch etwas in der Perspektive, packt er beim Wegräumen gern mit an. Die Freude an schönen Materialien ist ihm anzumerken, entsprechend stilsicher führt er uns zu den hübschesten Ausstellungsnischen.
Nach dem Jus-Studium im HR gelandet
Wie uns Jan Ammermann nach dem Shooting verrät, habe er seine HR-Karriere nicht geplant. «Wie die Jungfrau zum Kind» sei er dazu gekommen. Aufgewachsen in Altendorf am oberen Zürichsee, studiert der heute 44-Jährige an der Universität St. Gallen (HSG) Jus. Bald stellt er fest: «Das will ich nicht mein Leben lang tun.» Gleichzeitig kommt er an der HSG früh mit betriebswirtschaftlichem Denken in Kontakt. «Das interessierte mich deutlich mehr als die klassische Juristerei», erklärt er.
Das, was ihm heute aus dem Jus-Studium nützt, sei denn auch weniger das Fachwissen – «wobei ich von den Arbeitsrecht-Lektionen etwa bei Thomas Geiser natürlich profitiere» –, sondern das Denkmodell: «Wie im Recht gibt es im HR nicht richtig oder falsch – fast alles kann unterschiedlich interpretiert werden.» Das nerve ab und an, sei für ihn aber nicht Ausdruck von Unschärfe, sondern von Realität. Auch habe er im Jus-Studium gelernt, wie zentral die Sprache und die Zwischentöne sind – im Gesetz genauso wie im Gespräch.

Nach dem anschliessenden Sprachaufenthalt bewirbt sich Ammermann auf Empfehlung eines Freundes für ein Marketing-Praktikum beim Baustoffhersteller Pavatex. Diese Stelle bekam er zwar nicht, dafür eine andere: «Sie suchten jemanden, der das HR rechtlich professionalisiert, strukturiert und auf den neuesten Stand bringt. Das interessierte mich natürlich sehr.» Schliesslich bleibt er mehr als sieben Jahre – bis das Unternehmen an einen französischen Konzern veräussert wird. So wechselt er für knapp vier Jahre als Head of HR Switzerland and Group zu SFC Koenig, dem Weltmarktführer für Dichtungstechnologie und Regelsysteme.
Seit sechs Jahren HR-Leiter der HGC
Nun leitet Jan Ammermann seit rund sechs Jahren die HR-Abteilung der HGC. Die Genossenschaft beschäftigt rund 900 Mitarbeitende an knapp 50 Standorten in der ganzen Schweiz und bildet zudem knapp 100 Lernende aus. Es dominieren zwei Berufsgruppen: «Die grösste ist der Verkauf», erklärt er, vom klassischen Innen- und Aussendienst bis zur Ausstellungsberatung. Als zweites komme die Logistik mit zentralen Lagern, Abhollagern und rund 90 Lastwagen.

Wiederum findet Ammermann über sein Netzwerk zur HGC. Als er bei SFC Koenig «nicht mehr glücklich» ist und sich nach einer neuen Stelle umsieht, fragt ihn ein Headhunter, ob er einen Martin Tobler kenne. Tatsächlich: Dieser war einst sein Kollege bei Pavatex. Der Headhunter gibt ihm den Tipp: «Ruf ihn mal an!» Es lohnt sich: Nach dem Telefonat ist die Nachfolgelösung für die HR-Leitung der HGC gefunden. Und wie es der Zufall will, wird Tobler im gleichen Monat, in dem Ammermann startet, deren neuer CEO. «Wege kreuzen sich immer wieder», merkt Ammermann mit einem Augenzwinkern an – und macht damit klar, wie wichtig Beziehungen, Vertrauen und Timing für berufliche Laufbahnen sein können.
Den Puls vor Ort spüren
Das HR-Team der HGC besteht neben Ammermann aus fünf HR-Business-Partnerinnen und -Partnern: einer Person am Hauptsitz und je einer pro Region. Hinzu kommen eine Payroll-Verantwortliche, zwei Rollen für Projekte, Systemsupport und Controlling sowie eine Verantwortliche fürs Lernendenwesen. Die Prozesse, Standards, Systeme und Lohnabrechnungen werden zentral gemanagt. Rekrutierung und Begleitung der Mitarbeitenden passieren hingegen dezentral in den Regionen.
Der Teamrhythmus ist verbindlich: alle drei Wochen ein Call mit fester Agenda, dazu zwei bis drei physische Zusammenzüge pro Jahr. Und weil die Standorte geografisch weit verteilt sind, ist Präsenz für Ammermann nicht Symbolik, sondern Führungsinstrument: Die HGC arbeite nach dem Lean-Management-Prinzip «Kaizen» – japanisch für «Veränderung zum Besseren» und dessen Schlüsselwörtern «muda» (Verschwendung) und «gemba» (am Ort des Geschehens). Genau das praktiziere er auch im HR: «Keine Kartentischentscheide, sondern das Problem vor Ort lösen».

Aufgrund von fortwährenden Übernahmen von Baustoffhändlern ist auch die strategische Relevanz von HR in der Geschäftsleitung spürbar gestiegen: «Wir führen regelmässig Due Diligences durch, und rund alle 18 Monate kommt es zu kleineren bis grösseren Integrationen.» Zu Beginn sei das Personalwesen dem Chief Financial Officer unterstellt gewesen, heute direkt dem CEO.
«Das zeigt: Wir haben es geschafft, unsere Themen gut gegenüber der Geschäftsleitung zu vertreten, auch budgetmässig.» Sichtbar sind klassische HR-Schwerpunkte, zunehmend aber auch ganzheitliches betriebliches Gesundheitsmanagement, verstärkt im Bereich der mentalen Gesundheit. Mit rund zehn Prozent Lernenden hat die Berufsbildung grosse Bedeutung, was diesem Bereich zusätzlichen Stellenwert in der Geschäftsleitung verschafft.
Führungsstil situativ anpassen
Jan Ammermann beschreibt seinen Führungsstil mit dem Begriff «situative Leadership». Er will auf Kontexte reagieren, statt Schablonen anzuwenden. Entscheide sollen dort fallen, wo sie nötig sind; Diskussionen dort stattfinden, wo sie weiterhelfen. Er habe gelernt, zuzuhören – «dezent, um zu erfahren, um was es wirklich geht». Im Team setzt er auf Eigenverantwortung und vertrauensbasierte Arbeitsteilung.
«Leute machen lassen – erwachsene Leute wissen in der Regel, was sie zu tun haben.» Er sieht seine Rolle vor allem als Bindeglied: Überblick behalten, Stärken verbinden, Eskalationen abfedern – und zugleich rechtzeitig bremsen, wenn Perfektion zur Verzögerung wird.
Personalstrategie auf vier Säulen
Diese Haltung prägt auch seine Personalstrategie. Er hat vier Säulen bis 2030 definiert. Erstens Prozessarbeit: Digitalisierung und Vereinfachung, aber nur dort, wo Prozesse zuerst sinnvoll umgesetzt wurden. «Nicht schlechte Prozesse digitalisieren», laute hier die Leitlinie. Zweitens Gesundheit, mit Fokus auf mentaler Gesundheit und dem mittelfristigen Ziel einer Friendly-Work-Space-Zertifizierung.
«Das ist ein Marathon», sagt er, aber er habe das Gefühl, «es fruchtet langsam». Drittens Führungskräfteentwicklung, weil Führung «massgebend die Unternehmenskultur» beeinflusse. Viertens Lernendenwesen, inklusive Prüfung zusätzlicher Lehrberufe und einer Aufwertung der Berufs- und Praxisbildnerinnen und -bildner. Diese seien das «wertvollste Gut» im Ausbildungswesen; sie bräuchten Sichtbarkeit und Unterstützung, weil das Ausbilden von Lernenden einen Mehraufwand bedeute.

Beim Fachkräftemangel zeichnet Ammermann ein differenziertes Bild. Insgesamt sei die Situation «nicht einmal so schlimm», aber stark regional abhängig. In ländlichen Bergregionen sei Rekrutierung traditionell schwieriger. Am stärksten spüre die HGC den Mangel bei Chauffeurinnen und Chauffeuren in der Transportlogistik. Diese Jobs seien anspruchsvoll: «Du fährst nicht einfach Paletten von Lager A nach B, sondern direkt auf die Baustelle.» Dies oft ohne eindeutige Adresse oder im städtischen Verkehr, mit Kundenkontakt und hoher Verantwortung. Die HGC reagiere darauf mit starker Eigenausbildung. Weiter seien gute Verkaufsprofile knapp.
Überraschend gut gelinge dagegen das Anwerben von IT- und SAP-Talenten; Ammermann führt dies auf die Arbeitgeberattraktivität und Führungsqualität zurück: «Begehrte Profile suchen sich den Chef aus, nicht umgekehrt.»
Das Employer Branding basiert bei der HGC vor allem auf der Glaubwürdigkeit. Das 125-Jahr-Jubiläum habe die Wahrnehmung als «seriöse, langfristige Firma» gestützt. Authentizität soll zusätzlich über Lernendenkanäle auf Social Media entstehen, die von den Jugendlichen selbst geführt werden. Für Rollen, die schwer zu besetzen sind, teste man videobasierte Kampagnen mit Agenturen – «mit sehr guten Erfolgen».
Breite Altersstruktur bei der HGC
Als weiteres Erfolgsfeld beschreibt er Bindung und Altersstruktur. Die HGC entspreche «perfekt dem Schweizer Durchschnitt» in Alter und regionaler Verteilung – wenn auch mit branchenbedingt weniger Frauen. Der Altersschnitt liegt bei 42 Jahren. Entscheidender als der Mittelwert sei für ihn aber die Loyalitätskurve: «Wenn jemand das fünfjährige Jubiläum feiert, liegt die Chance fast bei 100 Prozent, dass er bis zur Pensionierung bleibt.»
Fluktuation zeige sich fast ausschliesslich in den ersten zwei Jahren. Die hohe Zahl an Lernenden verbreitere die Alterspyramide und schaffe einen stabilen Nachwuchsfunnel: «Wir können fast allen eine Anschlusslösung bieten und nötigenfalls Übergänge finanzieren. Frühpensionierungen seien relativ häufig, was auch mit attraktiven PK-Konditionen und der körperlichen Belastung in gewissen Logistikrollen zusammenhänge: «Früher hatte die Arbeitsplatzergonomie einen untergeordneten Stellenwert.»

Digitalisierung und künstliche Intelligenz sieht Ammermann als heutige Pflichtkompetenzen für HR-Professionals. Die Baubranche insgesamt sei in Teilen «nachhinkend», die HGC aber stark im digitalen Vertrieb. Auch habe das HR in wenigen Jahren aufgeholt, von rudimentären digitalen Abläufen zu einem klaren Zielbild. Die Nutzung von KI werde kontrolliert eingeführt: Solange die Datenstrategie nicht vollständig stehe, nutze die HR-Abteilung keine personenbezogenen Analysen. Gleichzeitig sei KI bereits im Alltag eingezogen.
«Ich mache heute keinen Workshop mehr ohne LLM», sagt er. Und auch sein Team nutze KI-Tools, beispielsweise für die Erstellung von Stelleninseraten. Ein freiwilliges KI-Training, an dem sich 60 bis 70 Mitarbeitende beteiligten, sollte vor allem Berührungsängste abbauen. Ammermann vergleicht das mit der Einführung der Computermaus: anfangs fremd, später selbstverständlich.
In der Baukette Schweiz für die KV-Ausbildung engagiert
Parallel zu seiner Unternehmensrolle präsidiert Jan Ammermann die Baukette Schweiz, die KV-Ausbildungs- und Prüfungsbranche Bauen und Wohnen. Der Verein entstand um 2003 auf Initiative der HGC und weiterer Akteure, damals mit dem Ziel, kaufmännische Berufsbildung im Baugrosshandel zu stärken. Heute umfasst die Baukette Schweiz die gesamte Baubranche – «von Architekturbüros über Baustoffhandel bis hin zu Baumeistern oder Verarbeitern». Für Ammermann ist die Branchenlogik ein zentraler Mehrwert in einem Berufsfeld, das 19 Branchen kennt: Sie bringt spezifische Inhalte in die Ausbildung, bindet die Praxis direkt über das Milizsystem ein und stiftet Identität: «Handwerker sind traditionell stolz auf ihr Metier; diesen Stolz wollen wir auch im KV fördern.»
Als ehrenamtlicher Bauketten-Präsident ist Ammermann nicht nur Vorgesetzter, sondern auch strategischer Sparringpartner der Geschäftsstelle. Er arbeitet an der Ausrichtung, verantwortet Budget und Governance, leitet Vorstandssitzungen und «challenged» Themen, die die Branche weiterentwickeln sollen. Für ihn sei die Rolle auch «ein Lernfeld für Führung auf strategischer Ebene» und erlaube ihm «einen frühen Blick auf Entwicklungen in der Berufsbildung». Die HGC sei historisch eng in der Baukette eingebunden, stellt Prüfungsexpertinnen und -experten sowie Leitende von überbetrieblichen Kursen und investiert stark in eigene KV-Lehrstellen.

Zur Debatte, ob KI das KV verdränge, positioniert sich Ammermann klar gegen Alarmismus. «Nicht wegen KI» werde das KV aussterben. Aber das Profil verändere sich «komplett». «Es gibt die einfachen Jobs nicht mehr, die früher perfekt waren für Lernende.» KV-Kompetenzen blieben, nur verlagerten sie sich stärker in Richtung Datenkompetenz, Kommunikation, Verkauf und Beratung. Seine Empfehlung für Schulabgehende ist deshalb differenziert: KV ja, «aber ich würde schauen, welche Branche». In der Baukette Schweiz sehe er einen entscheidenden Hebel: «Wer früh einen ‹Stallgeruch› und ein Branchenverständnis entwickelt, hat bessere Chancen, sich in einer sich wandelnden Arbeitswelt zu orientieren und dranzubleiben.»
Offenheit erhält oft Echo
Herausforderungen begegnet Jan Ammermann nicht mit Ausweichverhalten, sondern mit Lernbereitschaft – sowohl beruflich als auch privat. Eine klare Grenze zwischen den beiden Lebensbereichen zieht er nicht: «Das lässt sich nicht trennen.» Prägende Einschnitte, sei es im beruflichen oder persönlichen Kontext, haben ihn geformt. Aus schwierigen Phasen sei er gestärkt hervorgegangen – und mit einem feineren Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen. Offenheit versteht er dabei nicht als Selbstzweck, sondern als gezielte Beziehungsarbeit: «Ich spreche offen über das, was ich erlebe oder erlebt habe. Das öffnet oft auch mein Gegenüber.» Diese «Magie der Öffnung» erfahre er im Alltag immer wieder.
Seine privaten Interessen sind vielseitig und spiegeln seine Neugier wider. Er liest viel – von psychologischen Fachtexten bis hin zu historischen Analysen –, hat das Joggen für sich entdeckt und probiert gern Neues aus. Seine persönliche «Bucketlist» ist dabei weniger von Abenteuerlust als von Wissensdurst geprägt: ein Schweisskurs etwa – «damit man mitreden kann» – oder aktuell der Erwerb des Führerscheins, obwohl er nicht plant, ein eigenes Auto zu besitzen. «Ich bin ohnehin meistens mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs – und habe das Glück, über ein Firmen-GA zu verfügen.»
Baukette Schweiz
Baukette Schweiz kümmert sich als Verein um die Ausbildungs- und Prüfungsbranche Bauen und Wohnen – eine von 19 kaufmännischen Ausbildungsrichtungen. Sie führt in enger Zusammenarbeit mit den Lehrbetrieben die betriebliche und überbetriebliche Grundbildung durch. Jan Ammermann präsidiert den Verein.
HG Commerciale
(HGC) ist die Handelsgenossenschaft des Schweizerischen Baumeisterverbandes mit über 125-jähriger Tradition. Sie beliefert sowohl Profis aus dem Bauhaupt- und Baunebengewerbe als auch private Bauherrschaften mit Baumaterialien, Platten, Werkzeugen sowie Gartenbauprodukten und bietet umfassende Fachberatung und Logistikdienstleistungen. Die HGC beschäftigt rund 1000 Mitarbeitende, davon circa 100 Lernende, und verfügt über derzeit 48 Filialen und 19 Ausstellungen in der ganzen Schweiz.