HR Today Nr. 7&8/2021: Leadership – Coachen statt befehlen

Die Art des Führens

Leadership wird in unterschiedlichsten Facetten gelebt. Welche Leadership-Modelle Jung von Matt Limmat, die Bank WIR und Ypsomed nutzen und wie ein digitales Strategie- und Engagement-Tool im Führungsalltag hilft.

Hierarchiefreier Raum

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Die Kommunikationsagentur Jung von Matt Limmat setzt auf ein Kreativ-Ökosystem, das von allen Mitarbeitenden ein hohes Mass an Eigenmotivation, Selbstverantwortung und unternehmerischem Denken erfordert.

«Wir glauben, Hierarchie hemmt Kreativität. Deshalb nutzen wir mit dem neu eingeführten Kreativ-Ökosystem ein hierarchiearmes, kollaboratives und selbstorganisiertes Netzwerk», sagt Nathalie Eggen, Executive Empowerment Director bei Jung von Matt Limmat. Teams in der Agentur arbeiten deshalb selbstorganisiert, während die Mitarbeitenden interdisziplinär vom Empowerment Board gecoacht werden. Dieses besteht aus fünf Coaching-Mitgliedern und verantwortet die individuelle Entwicklung der Beschäftigten. «Damit hat jeder Mitarbeitende einen Begleiter oder eine Begleiterin, der oder die mit ihm die Entwicklung in der Agentur und im Team plant.» Darüber hinaus ist das Board für die übergreifende Entwicklung der Teams verantwortlich. Dadurch entflechte die Agentur die Führungsaufgaben von der täglichen Kreativarbeit. Zusätzlich können sich die Mitarbeitenden in unterschiedliche Richtungen entwickeln, eine Fach- oder Führungskarriere anstreben oder den Fokus auch auf das Kundenmanagement legen. Somit bedeute ein weiterer Karriereschritt nicht zwingend, Führungsverantwortung zu übernehmen.

Das neue Kreativ-Ökosystem ist laut Eggen nicht nur ein Führungsmodell, sondern ein Mindset: «Jede und jeder trägt mehr Verantwortung, hat aber auch mehr Entwicklungschancen.» Zudem müssten Mitarbeitende dadurch nicht mehr auf eine Aufgabenverteilung warten. «Das Team organisiert sich selbst innerhalb seiner vorgegebenen Ziele», erklärt Nathalie Eggen. Diese Arbeitsweise sei besonders für jüngere Mitarbeitende interessant, weil sie auch ohne Führungsfunktion schneller Verantwortung übernehmen können. «Der Rang einer Person ist somit weniger relevant als ihr Skill-Set.»

Karrierepfade seien dennoch wichtig, würden durch das Kreativ-Ökosystem aber fluider. «Damit tragen wir der neuen Talentgeneration Rechnung: Jüngere Mitarbeitende können durch unser Traineeprogramm ‹Future Creative Leaders› verschiedene Bereiche einer Agentur kennenlernen, ohne sich von Anfang an festzulegen.» Das sei für die Agentur nützlich, weil sie künftig mehr flexible Generalistinnen und Generalisten brauche, die sich schnell in verschiedene Rollen und Themen eindenken können.

Die Umstellung auf das neue Modell ist bei Jung von Matt Limmat inzwischen etabliert. Der Übergang vom alten zum neuen System habe vor allem deshalb funktioniert, weil die Agentur-Teams bereits seit 2019 selbstorganisiert arbeiten. «Somit war es für viele Mitarbeitende nichts Neues, in einem hierarchiearmen und interdisziplinären Umfeld zu arbeiten», sagt Eggen. Das konsequente Neudenken von Führung bleibe aber eine konstante Aufgabe. «Vor allem in arbeitsintensiven Phasen sind das Stresstests für unsere Organisation. Oft wünscht man sich dann jemanden, der oder die entscheidet.» Gleichzeitig würden Teams aber genau in solchen Momenten wachsen. «Ein Kreativ-Ökosystem ist somit konstant Work in Progress», betont Eggen.

Jung von Matt Limmat AG
Die 1993 gegründete Kommunikationsagentur vereint ein Team von 140 Expertinnen und Experten aus allen Marketing- und Kommunikationsdisziplinen in einem Kreativ-Ökosystem. Jung von Matt Limmat AG liebt Ideen, die inspirieren, und arbeitet für Schweizer Kultmarken wie Coop, die Mobiliar und Ovomaltine.

Mitarbeitende einbeziehen

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Die Angestellten der Bank WIR sollen selbständig agieren und bei Entscheidungsfindungen einbezogen werden. Wie die Bank ihre Führung transformiert.

Lange herrschte bei der Bank WIR eine «Command and Control»-Kultur mit direktiver Führung, Weisungen und Kontrolle, erzählt Peter Ingold, Leiter HR & Unternehmensentwicklung und Mitglied der erweiterten Geschäftsleitung. «Heute ist das nicht mehr so.» In einem Umfeld ohne Veränderungs- und Innovationszwang sei dieser Führungsstil vielleicht noch angebracht, nicht jedoch in der Finanzindustrie, die disruptiven Veränderungen ausgesetzt sei. «Die Branche braucht entsprechende Arbeits- und Führungsmodelle», betont Ingold. Die Geschäftsleitung der Bank WIR führe deshalb ein transformationales Führungsmodell ein, bei dem Vorgesetzte als Vorbilder agieren, Mitarbeitende individuell unterstützen und sie motivieren, herausfordernde Ziele anzugehen. Noch sei nicht aller Tage Abend: «Wir haben noch Entwicklungspotenzial.» In den letzten Jahren habe die Bank aber bereits einige Führungsinstrumente implementiert, die diese Entwicklung in den kommenden Jahren begünstigen und beschleunigen. «Damit bewegen wir uns von der Leistungsbeurteilung und der jährlichen Zielsetzung zu kurzfristig steuerbaren, qualitativen und quantitativen Leistungsbeiträgen», erzählt Peter Ingold.

Daneben will die Geschäftsleitung der Bank WIR Mitarbeitende wo immer möglich in Entscheidungsfindungen einbeziehen. Schon heute können diese ihre Ideen und Ansichten zur kontinuierlichen Verbesserung im Prozessmanagement (Business Process Management) einbringen. Damit Führungskräfte und ihre Teams selbst gesetzte Ziele besser erreichen, lancierte die Bank zudem kürzlich ein Coaching-Pilotprojekt. Dieses sei bisher erfolgreich verlaufen. «Wir weiten dieses nun auf das gesamte Unternehmen aus.»

Anschub zum Führungsstil-Wechsel gaben die positiven Erfahrungen, die das Finanzinstitut im vergangenen Jahr bei der Anpassung seiner Allgemeinen Arbeitsbedingungen gemacht hatte. «Wir wollten, dass sich die Arbeitgeberseite und die Arbeitnehmenden gleichermassen einbringen können. Deshalb stellten wir eine Arbeitsgruppe aus Führungspersonen, jüngeren und älteren Mitarbeitenden sowie Teilzeitangestellten zusammen.» Begleitet wurde das Projekt von einer externen Arbeitsrechtsspezialistin, welche die rechtlichen Rahmenbedingungen sicherstellte. Die Zusammenarbeit fruchtete. Unter anderem hätten Führungskräfte und Mitarbeitende gemeinsam beschlossen, die Normalarbeitszeit von 42 auf 40 Stunden zu verkürzen, ohne die Gehälter zu kürzen, sowie flexibles Arbeiten und Homeoffice einzuführen. «Durch die Rückmeldungsschlaufen zog sich der Prozess zwar in die Länge, die Umsetzung ging jedoch einfacher vonstatten, weil die Mitarbeitenden die Veränderungen mittrugen», sagt Ingold. Ausserdem habe sich dadurch nicht nur die Führungs- und die Unternehmenskultur, sondern auch die Verhandlungs- und Gesprächskultur verändert. «Vorgesetzte haben gelernt, Kontrolle abzugeben und Arbeitsgruppen zu vertrauen. Im Gegenzug wurden die Mitarbeitenden bestärkt, Verantwortung zu übernehmen und ihre Kompetenzen zu steigern.»

Bank WIR
Die Bank WIR ist mit knapp 250 Mitarbeitenden ein klassisches KMU in der Finanzbranche und richtet sich vor allem an KMU sowie Privatkunden. 1934 gegründet, bietet die Genossenschaftsbank neben einer Komplementärwährung moderne Bankprodukte sowie Spar- und Vorsorgelösungen.

Den Wandel aktiv gestalten

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Ypsomed wandelt sich mit neuen Wissensmanagement-Ansätzen zum agilen Unternehmen. Herzstück des Change-Prozesses sind smarte Weiterbildungsformate und eine offene Unternehmenskultur.

«Wachsender Innovationsdruck und die Chancen neuer datenbasierter Geschäftsmodelle erfordern neue Kompetenzen und eine höhere Dynamik», sagt Michael Zaugg, Senior Vice President Human Resources bei Ypsomed. Deshalb reifte im Top-Management des MedTech-Unternehmens die Erkenntnis: «Wollen wir schneller auf Marktherausforderungen reagieren, müssen unsere Führungskräfte lernen, Eigeninitiative zu übernehmen, Verantwortung abzugeben und Aufgaben zu delegieren.»

Ypsomed prüfte neue Wege des Lernens und des Kulturwandels und entschied sich für einen systemischen, businessnahen Ansatz mit dem Leitmotiv «Leading for Future» (L4F) und die Unterstützung durch die step 5 AG aus Zürich. Eingebunden in das Projekt erarbeiteten rund 170 Ypsomed-Führungskräfte aller Hierarchieebenen unter interner und externer Begleitung die Kompetenzen einer Ypsomed-Führungskraft im Jahr 2024. Das so entwickelte Führungskompetenzmodell basiert auf den Unternehmenswerten und Führungsgrundsätzen der Ypsomed und beinhaltet drei zentrale Kompetenzkategorien: «Run Business» umfasst strategisches Handeln, Entscheidungsfindung sowie Kunden- und Ergebnisorientierung. «Lead People» Anforderungen an Führungskräfte zur Mitarbeiterentwicklung, Förderung der Teamzusammenarbeit, professionellen Kommunikation und Gestaltung des Wandels. Bei «Develop Myself» sind Führungskräfte gefordert, wertorientiert zu agieren, authentisch zu handeln, Verantwortung für das Unternehmen und sich selbst zu übernehmen sowie sich persönlich zu entwickeln. «Wir haben gemeinsam mit Ypsomed einen zukunftsweisenden, hirngerechten Ansatz von Führungslernen entwickelt, um die Führungskompetenzen zu entwickeln», sagt Christoph Mahr, Geschäftsführer der step 5 AG. Das bedeute, Lernprozesse durch ein hohes Mass an Eigenverantwortung so zu gestalten, dass sie der Funktionsweise des menschlichen Gehirns besser entsprächen und die Gelegenheit böten, erwünschte Führungswerte durch die Programmgestaltung erlebbar zu machen. Deshalb sei das Projekt-Kernelement die Wahl einer individuellen Business Challenge zu Beginn des Programms. So dienten die Entwicklung neuer Produktvarianten oder die Verbesserung der standortübergreifenden Zusammenarbeit als «Lern-Vehikel», um neue Führungskompetenzen und -verhaltensweisen zu erlernen und beim Lösen der Business Challenge anzuwenden. Flankiert wurden die Business Challenges durch Peer Coachings, kollegiale Lern- und Reflexionseinheiten sowie Seminarmodule, in denen Coaches die selbstorganisierten Lernprozesse mit Anregungen und Empfehlungen unterstützten. Beim Peer Coaching halfen sich ­Führungskräfte gegenseitig bei der Lösung der Business Challenges. Sie befeuerten so die individuellen ­Lernprozesse und stärkten damit ihre Coaching-Fähigkeiten. «Diese Mischung aus Selbstverantwortung, vernetztem Lernen mit Kollegen und die Lösung einer Business Challenge machen den Unterschied und diese Form des Lernens so effizient», sagt Christoph Mahr.

Durch den businessnahen Ansatz werde der Wandel positiv wahrgenommen. «Der Austausch und die abteilungsübergreifende Kommunikation sind selbstverständlicher geworden und die Manager professioneller in ihrer Selbstführung.» Das bewirke einen Bewusstseinswandel der Mitarbeitenden. «Die Arbeitszufriedenheit hat sich erhöht, das Gesamtsystem wurde agiler, prozessorientierter, weniger störungsanfällig und damit resilienter gegenüber Veränderungen in der Zukunft», sagt Michael Zaugg.

Das Projekt ist auf zwei bis drei weitere Jahre angelegt. HR und die externen Berater von step 5 werden Teil des Prozesses bleiben, indem sie durch Reflexionsgespräche die Umsetzung des Gelernten in den Arbeitsalltag flankieren und verstärken, erklärt Zaugg. «So kann das System von innen heraus weiterwachsen.»

Ypsomed
Ypsomed ist Entwicklerin und Herstellerin von Injektions- und Infusionssystemen für die Selbstmedikation und Diabetesspezialistin mit 30 Jahren Erfahrung. Sie ist Partnerin von Pharma- und Biotechunternehmen für Pens, Autoinjektoren und Pumpensystemen zur Verabreichung von flüssigen Medikamenten. Ypsomed hat ihren Hauptsitz im schweizerischen Burgdorf, verfügt über ein globales Netzwerk aus Produktionsstandorten, Tochtergesellschaften und Vertriebspartnern und beschäftigt weltweit rund 1800 Mitarbeitende.

Mit Daten führen

Wissen, statt zu meinen, ist der Schlüssel zum Führungserfolg, sind Lars B. Sonderegger und Luca Tripodi überzeugt. Wie ihr Strategie- und Engagement-Tool «Getimpulse» dabei hilft und wohin sich Führung entwickeln soll.


Sie entwickelten als «Spin-off» der Hochschule Luzern ein Tool, mit dem Vorgesetzte möglichst ohne «Sand im Getriebe» führen sollen. Was heisst das?
Lars B. Sonderegger: «Sand im Getriebe» sind kleine Ungereimtheiten im Unternehmen, mangelnde Absprachen, fehlendes Mitdenken und das fehlende Engagement. In der Summe verlangsamen all diese negativen Punkte eine Organisation und verringern ihre Kundennähe sowie ihre Produktivität. Eine gute Führungskultur schafft hier Abhilfe.

Wie kann Ihr Tool Unterstützung bieten?
Luca Tripodi: «Getimpulse» ist eine «Fitness»-App für Führungskräfte. Diese erinnert sie daran, mit ihren Mitarbeitenden regelmässige, ultrakurze Führungsgespräche mit den strategisch richtigen Fragen zu führen, die sie intuitiv, aber systematisch ins Gespräch aufnehmen können. Die Software hilft dabei, einen roten Faden einzuhalten, speichert generierte Daten ab und wertet diese aus. Führungskräfte erhalten damit eine Übersicht zum Engagement der Mitarbeitenden, deren Kompetenzen, Motivation und dem Teamspirit. Infolgedessen können sie Mitarbeitende gezielt fördern und entwickeln.

Ein Best Practice aus einem Unternehmen?
Sonderegger: Ein Abfallentsorgungsunternehmen befand sich in einer schwierigen Situation. Es gab eine hohe Fluktuation, ein schwieriges Arbeitsklima und einen hohen Preisdruck. Das mündete in einer Abwärtsspirale. Mit unserem Tool gelang es dem Unternehmen, innert weniger Monate ein höheres Mitarbeiterengagement zu schaffen. Von den Müllentsorgenden bis zum Kader kamen durch die regelmässigen Feedbacks ständig Impulse, wie sich Dienstleistungen und Prozesse verbessern lassen.

Wie muss sich Führung künftig entwickeln?
Tripodi: Die Lebenserwartung eines Unternehmens wird stark verkürzt, wenn Führung als Befehlen verstanden wird. Führung muss Mitarbeitende on the Job weiterbringen sowie wertschätzend und resultatorientiert sein. Das sind keine «Bäume umarmen»-Seminare, sondern Aktionen, die nachhaltig wirken und Daten generieren. Letztere helfen, das Unternehmen zu lenken. Auch das HR profitiert von diesen Daten und erhält einen strategischen Hebel, um die richtigen Fragen zu stellen und dabei zu helfen, zielführende Massnahmen umzusetzen.

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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