HR Today Nr. 4/2021: Inklusion – Betriebsporträts

Gelebte Inklusion

Arbeit ist für alle Menschen ein wichtiger Lebensbestandteil. Auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Wie es gelingt, sie zu integrieren.

«Läbesruum», Winterthur

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«Die Pandemie hat die Arbeitsmarktchance unserer Beschäftigten verschlechtert», konstatiert «Läbes­ruum»-Geschäftsführer Oliver Seitz. Firmen würden seine Beschäftigten mit grösserer Zurückhaltung anstellen. Hinzu käme, dass die beim «Läbesruum» Beschäftigten situationsbedingt verunsichert seien und in Bewerbungsprozessen weniger selbstbewusst auftreten. «Um ihnen Arbeit zu verschaffen, war es für uns ein grosses Anliegen, auch während Corona offen zu bleiben», sagt Seitz. Möglich sei das durch ein umfassendes Schutzkonzept. Zudem dürfe das «Läbesruum»-Restaurant als Betriebskantine weiterhin geöffnet bleiben. Institutionen wie den «Läbesruum» brauche es jetzt mehr denn je. «Viele unserer Beschäftigten leben in engen Wohnungen, bewegen sich am finanziellen Existenzminimum und sind psychisch belastet. Wir geben ihnen Halt, verschaffen ihnen ein Einkommen und unterstützen sie bei sozialen Fragen.» Im «Läbes­ruum» lebt knapp die Hälfte der Mitarbeitenden von der Sozialhilfe, die andere von den Einkünften im «Läbesruum». Einige wenige Mitarbeitende sind zudem beim RAV oder erhalten eine IV-Rente. Um deren Integration kümmern sich die Festangestellten. «Wir bieten ausserdem zwei Beschäftigungsprogramme, in denen wir primär Personen integrieren, die schon länger nicht mehr im ersten Arbeitsmarkt gearbeitet haben. Diese Beschäftigten werden von festangestellten Mitarbeitenden mit einer agogischen Zusatzausbildung angeleitet», erklärt Seitz. Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Situation stiegen beim «Läbesruum» die Anfragen 2020 nicht an, «die Integrationsstunden blieben auf Vorjahresniveau», bestätigt Seitz. «Wir gehen aber davon aus, dass sich das 2021 ändert.»

Der «Läbesruum» in Winterthur beschäftigt 60 Fest­an­gestellte. Hinzu kommen jährlich rund 450 integrierte Personen: Einige Mitarbeitende arbeiten wenige Stunden, andere täglich und über viele Jahre hinweg. Beschäftigte im «Läbesruum» übernehmen einfache Hilfsarbeiten wie Rasen­mähen, aber auch verantwortungsvollere in der Buchhaltung. Fast die Hälfte der Beschäftigten verlässt den «Läbesruum» innerhalb eines Jahres wieder. Einige finden eine dauerhafte Anstellung, andere eine temporäre. Letztere kehren meist in den «Läbesruum» zurück. Wiederum andere finden ein passenderes Integrationsangebot oder hören auf zu arbeiten, weil es ihre psychische Gesundheit nicht zulässt. laebesruum.ch

«förderraum», St. Gallen

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«Das 3-Stern-Hotel Dom in der Altstadt von St. Gallen ist einer breiten Öffentlichkeit bekannt», sagt «förderraum»-Geschäftsführerin Alma Mähr. Das Hotel Dom zählt zu den Vorzeigebetrieben des «förderraums». Über den Integrationsauftrag der Institution wisse jedoch kaum jemand Bescheid. «Das hat wohl damit zu tun, dass unser Betrieb nach marktwirtschaftlichen Kriterien funktioniert und dies kaum jemand mit einer sozialen Institution in Verbindung bringt.»  Umso einschneidender ist für Alma Mähr die derzeitige Corona-Situation, die sie «nicht nur wirtschaftlich sondern sozial fordert». Betrug die Zimmerauslastung des Hotels vor der Pandemie durchschnittlich 70 Prozent, ist diese zwischenzeitlich auf unter 10 Prozent gesunken. «Unsere Gäste sind mehrheitlich Geschäftsreisende. Diese Zielgruppe fällt situationsbedingt zurzeit jedoch fast weg.» Auch das zugehörige Restaurant musste vorübergehend geschlossen werden. Allerdings konnte das Hotel Dom im Gegensatz zur regulären Hotellerie seine Türen nicht gänzlich schliessen und Kurzarbeit einführen. «Trotz der Pandemie müssen wir unseren institutionellen Kernauftrag aufrechterhalten und den Beschäftigten mit Beeinträchtigungen und psychischen Problemen Stabilität und eine Alltagsstruktur bieten», sagt Alma Mähr. Im Hotel Dom betreffe das 45 Mitarbeitende mit Unterstützungsbedarf sowie 12 Lernende. Das erfordere einen ausserordentlichen Einsatz der Fachpersonen. «Von der intensiveren Begleitung über die erschwerte Aufrechterhaltung des Arbeitsalltags bis hin zu alternativen Beschäftigungsprogrammen unter Einhaltung spezieller Schutzkonzepte.»

Der «förderraum» integriert Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf in Gesellschaft und Arbeitswelt im Auftrag der IV und des Kantons St. Gallen. Er bietet wirtschaftsnahe und unternehmerisch geführte Arbeitsangebote in den Branchen Gastronomie und Hotellerie (Hotel Dom, Schloss Café Heerbrugg und Wäscherei am Dom), Betriebsunterhalt (Haus&Garten) und im kaufmännischen Bereich (Klar.Doch). Zurzeit beschäftigt die Organisation 90 Mitarbeitende und 42 Lernende mit Beeinträchtigung. Insbesondere Lernenden sollen nach Lehrabschluss im ersten Arbeitsmarkt arbeiten. Dafür werden die Jugendlichen individuell unterrichtet und erhalten ein Jobcoaching. Dienstleistungen, die auch Beschäftigten offenstehen, die im ersten Arbeitsmarkt wieder einsteigen möchten. Der «förderraum» pflegt dazu ein breites Netzwerk mit Arbeit­gebenden in der Privatwirtschaft und arbeitet eng mit dem Amt für Wirtschaft und Arbeit sowie weiteren öffentlichen Stellen zusammen. foerderraum.ch

«Stiftung und Café Zuckerpuppa», Naters

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«Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten möchten wir den Arbeitnehmenden mit Beeinträchtigung zeigen, dass ihre Arbeit wertvoll ist», sagt Sarah Imboden Reinke, Initiantin und Mitgründerin der «Stiftung Zuckerpuppa» in Naters. Deshalb unternehmen sie und ihr Team trotz Gastronomie-Lockdown alles, um Lernende und Mitarbeitende zu beschäftigen und auszulasten. «Dafür brauchen wir viel Durchhaltevermögen.» Für Imboden Reinke ist die Corona-Pandemie aber auch eine Chance. «Seit vergangenem Jahr haben wir unsere Dienstleistungen erweitert. Nebst Take-away-Angeboten produzieren wir vor allem auf Bestellung.» Ein Angebot, das von der Bevölkerung in Naters rege genutzt wird: «Die lokale Bevölkerung verhält sich sehr solidarisch.»  Dieser Erfolg ermög­licht beiden Lernenden, weiterhin fünf Tage pro Woche im «Café Zuckerpuppa» zu arbeiten, während die anderenMitarbeitenden mit Beeinträchtigungen zumindest fünf bis acht Stunden pro Woche im Betrieb tätig sind. Arbeit haben dennoch nicht alle: Ein Teil der Angestellten ist in Kurzarbeit, während die freiwilligen Mitarbeitenden derzeit gar nicht arbeiten. «Wir wollten vor allem die Lernenden beschäftigen, damit sie den Anschluss nicht verlieren und ihre Tagesstruktur beibehalten», erklärt Sarah Imboden Reinke. Um finanziell einigermassen gut durch die Krise zu kommen, haben die Stiftungsratsmitglieder verstärkt Fundraising und Networking betrieben. «Die Pandemie darf nicht dazu führen, dass Themen wie Bildung für alle und ein selbstbestimmtes Leben für Menschen mit Beeinträchtigung von der Bildfläche verschwinden.» Eine berechtigte Angst. So erhält Imboden Reinke wegen der Corona-Pandemie derzeit weniger Jobanfragen von Menschen mit Beeinträchtigung. Für 2021 konnten Imboden Reinke und ihr Team dennoch einen Ausbildungsplatz besetzen. «Ein Einsatz, der sich lohnt», sagt Imboden Reinke. «Die ersten zwei Lernenden haben ihre Lehre abgeschlossen und arbeiten heute beide im ersten Arbeitsmarkt: im Saaser Café und im Provisorium96/Fabrique28 in Bern.»

2017 entstanden aus der «Stiftung Zucker­puppa», bietet das «Café Zuckerpuppa» in Naters für Jugendliche und junge Menschen mit Beeinträchtigungen zwei Arbeits- und zwei Ausbildungsplätze in der Restauration, dem Service und der Küche. Bei Problemen steht ihnen eine Praxisausbildnerin zur Seite, die auch ihre Lernziele überprüft. Während der Ausbildung absolvieren die Lernenden ein Praktikum im ersten Arbeitsmarkt. Damit stellen die Verantwortlichen des «Café Zuckerpuppa» sicher, dass die Lernenden auch in einem anderen Betrieb arbeiten können und nach der Lehre den Sprung in einen Anschlussbetrieb schaffen. Die «Stiftung Zuckerpuppa» ist ein Herzensprojekt von Sarah Imboden Reinke und Thomas Reinke, deren Tochter von einer Entwicklungs- und Sprach-Entwicklungsstörung betroffen ist. zuckerpuppa.ch

Stiftung «RAZ – Regionales Arbeitszentrum», Herzogenbuchsee

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«Alle Menschen haben eine Stärke», sagt Denise Kaajas-Berger, HR-Verantwortliche bei RAZ – Regionales Arbeitszentrum in Herzogenbuchsee. Getreu diesem Motto setzt die Stiftung Menschen mit Beeinträchtigung in verschiedenen Abteilungen ein. Etwa für Gartenarbeiten im Hausdienst, für Vorbereitungs­arbeiten in der Küche oder für die Bedienung von diversen Maschinen in der Fabrikation. Um für alle Beschäftigten den richtigen Arbeitsplatz zu finden, besprechen die Betreuer in Abteilungen wie der Fräserei zunächst im Team, wie ein Auftrag abgewickelt werden soll, welche Rolle jedes Teammitglied dabei innehat und welche Aufgaben ein Betreuter übernimmt. Dass nicht ein einzelner Produktionsleiter über das Vorgehen bei der Auftragsabwicklung entscheidet, hat für Kaajas-Berger einen Grund: «Wir wollen, dass unsere Mitarbeitenden als Unternehmer im Unternehmen denken.» Dazu hat die Stiftung erst kürzlich eine radikale Restrukturierung durchgeführt und einige Hierarchiestufen abgeschafft. Seither organisieren sich die Teams der verschiedenen Abteilungen weitgehend selbst. Auf Augenhöhe zu arbeiten, gilt nicht nur für die Fest­angestellten der Stiftung. Auch die Menschen mit Beeinträchtigungen sind eingebunden: «Die Gleichbehandlung aller wirkt sich auf das Wir-Gefühl aus. Deshalb haben wir kürzlich ein Mitarbeitendenreglement eingeführt, das für die Festangestellten wie auch für die in unseren Abteilungen beschäftigten Menschen mit Beeinträchtigungen gilt.» Obschon die Kompetenzen der Betreuten durch dieses Vorgehen erhalten oder gefördert werden, reichen diese nicht immer für eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ein Sprung dorthin gelingt nur zehn bis zwanzig Prozent. Dennoch gibt es immer wieder Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise, als ein Jugendlicher mit Hörschaden eine Anlehre zum Mechanikpraktiker bei der RAZ-Stiftung beendete und durch die IV-Zusammenarbeit den Sprung in den ersten Arbeitsmarkt schaffte. «Dort ist er heute noch tätig.»

Die Stiftung RAZ – Regionales Arbeitszentrum mit Sitz in Herzogenbuchsee bietet in der Region Bern Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigung. Rund 120 Beschäftigte sind an geschützten Arbeitsplätzen in den stiftungseigenen Abteilungen wie Metallbearbeitung, Montage und Verpackung, Pharma, Hauswirtschaft, Küche oder Unterhalt tätig. Um Aufträge zu beschaffen, steht die Stiftung in engem Austausch mit Firmen des ersten Arbeitsmarkts. Für rund 26 Menschen, die mehr Betreuung als jene der RAZ-Abteilungen benötigen, wurden zusätzliche Arbeitsplätze in den beiden Ateliers der Stiftung geschaffen, wo sie Produkte aus Holz, Filz und Stoff und anderen Materialien anfertigen. Zusätzlich arbeiten im RAZ 69 reguläre Mitarbeitende – von der Administration über das HR und die Fachgruppen bis hin zur Geschäftsleitung. raz-stiftung.ch

«tanneschaffhausen», Schaffhausen

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«Meine Heroes sind motiviert bei der Arbeit und gewinnen durch ihre Tätigkeit positive Energie und Selbstvertrauen», sagt «tanneschaffhausen»-Geschäftsführerin Claudine-Sachi Münger. Deshalb sei es für deren Wohlergehen essenziell, sie auch während wirtschaftlich schwieriger Zeiten zu beschäftigen. Eine Herausforderung: «Als Gastronomieunternehmen sind wir zurzeit in unseren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt.» Darum seien Kreativität und neue Ideen gefragt.  Deshalb  erstellte Münger während des ersten Lockdowns mit ihrem Team für den Tannenladen einen Onlineshop. Als sich Ende Januar 2021 während des zweiten Lockdowns kein Ende der Zwangsschliessung abzeichnete, rief Münger ein weiteres Projekt ins Leben: «Hausgemachtes by Heroes» – Saucen im Glas oder tiefgekühlte gefüllte vegane Teigwaren. Diese verkauft der «TanneLaden» über seinen Onlineshop und den Schaffhauser «littl’ shop of ethics». Um das Projekt zu finanzieren, startete Münger ein Crowdfunding-Projekt und kontaktierte eine Stiftung. «Durch das Crowdfunding haben wir genügend Bestellungen generiert, um unsere Heroes im Februar zu beschäftigen.» Münger ist zuversichtlich:  «Unternehmen überdenken ihre internen Prozesse und fragen sich zunehmend, welche Tätigkeiten Menschen mit Beeinträchtigungen übernehmen könnten.»  Dass die Sinnfrage der Arbeit für viele Menschen wichtiger geworden sei,  zeige sich auch  bei der Rekrutierung: «Wir erhalten viele Bewerbungen von Berufstätigen, die eine sinnvolle Aufgabe suchen.» Etwa als Mitarbeitender der «tanneschaffhausen» oder um mitzuhelfen und überhaupt eine Beschäftigung zu haben.  Hinzu kämen laufend Anfragen  von Menschen mit Handicap, die sich für Schnuppertage oder Praktika interessieren. Das ist kein Zufall: «Für Jugendliche mit Beeinträchtigungen gibt es nach wie vor viel zu wenig Ausbildungsplätze», bedauert Claudine-Sachi Münger.

Die «tanneschaffhausen» ist eine GmbH und verfügt über drei Firmenzweige: die Vermietung von neun Einzimmerstudios mit Reinigungs- und Wäscheservice, ein Restaurant und einen «TanneLaden» inklusive Onlineshop. Menschen mit Beeinträchtigungen arbeiten dort mit dem Ziel, später in Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig sein zu können. Aktuell beschäftigt die «tanneschaffhausen» drei Mitarbeitende (Unterstützende) und elf Mitarbeitende mit Handicap (Heroes). Die Organisation wird von der öffentlichen Hand nicht subventioniert. Menschen mit Beeinträchtigungen rekrutiert das Unternehmen über die Stellenplattform mitschaffe.ch. tanneschaffhausen.ch

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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