«Schaffen Sie Räume, in denen Fragen wichtiger sind als perfekte Antworten»
Neugier aktiviert Lernzentren im Gehirn, stärkt die mentale Gesundheit und steigert die Anpassungsfähigkeit. Neurowissenschaftlerin Barbara Studer erklärt, warum diese Fähigkeit im Arbeitsalltag neu gedacht werden sollte.

Neugier öffnet Türen zu neuen Ideen und Lernmöglichkeiten im Unternehmen. (Bild: zVg)
HR Today: Frau Studer, Sie halten am Berner Wirtschafts- und HR-Forum 2026 eine Keynote zum Thema Neugier. Was hat Sie persönlich dazu bewegt, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen?
Barbara Studer: Neugier ist für mich einer der am meisten unterschätzten neurokognitiven Faktoren unserer Zeit. In meiner Forschung und in der Arbeit mit Organisationen habe ich immer wieder gesehen, dass Neugier der Motor ist, der Lernen, Veränderung und Innovation überhaupt erst möglich macht. Gleichzeitig beobachte ich, wie sie im Alltag oft unterdrückt wird, etwa durch Zeitdruck, Routinen, Bewertungskultur oder die Angst vor Fehlern. Als Neurowissenschaftlerin sehe ich in Neugier nicht nur eine «schöne Eigenschaft», sondern eine neurobiologische Ressource, die trainierbar ist und enormen Einfluss auf die mentale Fitness und Gesundheit, Motivation und berufliche Erfüllung hat. Dieser Gap zwischen Potenzial und Realität ist das, was mich antreibt.
Was passiert im Gehirn, wenn wir neugierig sind?
Die Neugier wirkt wie Dünger für unsere Motivation und die synaptische Plastizität. Sie ist ein neurobiologischer Zustand, der gleich mehrere Systeme aktiviert: das dopaminerge Belohnungssystem, den Hippocampus für Gedächtnisbildung und präfrontale Netzwerke für Exploration und Problemlösen. Wenn wir neugierig sind, steigt die Dopaminausschüttung und damit unsere Lernfähigkeit. Das Gehirn wird empfänglicher für neue Informationen, speichert sie tiefer ab und verknüpft sie stärker. Sie fördert auch die geistige Flexibilität, die eine Schlüsselressource in Transformationszeiten darstellt.
Welche Unterschiede gibt es zwischen angeborener und trainierbarer Neugier?
Ein kleiner Teil der Neugier ist temperamentbedingt. Der grössere Teil aber ist kontextabhängig und trainierbar. Neugier wächst in Umgebungen, die Fragen belohnen statt bewerten, Fehler als Lernschritte betrachten und Autonomie ermöglichen. In Organisationen kann man «situationale Neugier» aktiv fördern, etwa durch interdisziplinäre Teams, offene Lernformate oder die Erlaubnis, kleine Risiken einzugehen. Neugier braucht nicht Talent, sondern Bedingungen.

Wie kann Neugier in Organisationen als strategische Kompetenz verstanden werden?
Ähnlich wie Empathie, Hoffnung oder Problemlösekompetenz ist Neugier eine Grundhaltung, die Verhalten steuert. Neugierige Mitarbeitende lernen schneller, adaptieren sich leichter, bringen mehr Ideen ein und gehen konstruktiver mit Unsicherheiten um. Aus strategischer Sicht stärkt Neugier vier Bereiche: Innovationskraft, Entscheidungsqualität, Zusammenarbeit und mentale Gesundheit. Sie ist also kein «Soft Skill», sondern eine Zukunftskompetenz.
Welche Rolle spielt Neugier in der heutigen Arbeitswelt?
Wer neugierig ist, erlebt Wandel nicht als Bedrohung, sondern als Einladung. Digitalisierung, KI-Entwicklung, demografischer Wandel und Fachkräftemangel verlangen Menschen, die bereit sind, Unbekanntes zu erkunden und kontinuierlich zu lernen. Neugier ist dabei ein Gegenmittel zu Angst, Überforderung und starrem Festhalten an Gewohnheiten. Sie macht Transformation menschlicher.
Inwiefern kann eine neugiergetriebene Kultur die Mitarbeitendenbindung beeinflussen?
Neugier schafft psychologische Energie und Sinn. Wenn Menschen das Gefühl haben, wachsen zu können, Ideen einbringen zu dürfen und gehört zu werden, steigt ihre intrinsische Motivation – einer der stärksten Prädiktoren für Bindung. Zudem zeigen Studien, dass neugierige Teams kooperativer, diversitätsoffener und resilienter sind.
Wie können HR-Abteilungen Neugier in Personalentwicklung und Talentstrategie integrieren?
Neugier lässt sich systematisch einbauen, wenn man sie explizit als Kompetenz versteht. Einige Hebel sind besonders wirksam:
- Onboarding: neugierfreundliche Fragenkultur statt «So machen wir das hier»-Denken
- Performance-Management: Lernziele statt rein Output-orientierter Ziele
- Leadership-Programme: Führung lernen, die nicht nur Antworten gibt, sondern Fragen fördert
- Training: Micro-Learning, interaktive Formate, Jobrotation, Reverse Mentoring
- Recruiting: Auswahl nach Lernagilität, nicht nur nach Erfahrung
Haben Sie Praxisbeispiele?
Ja, in einer Schweizer Dienstleistungsorganisation führten wir von Hirncoach ein neugierbasiertes Learning-Framework ein: Statt klassischer Weiterbildungen erhielten Teams monatliche «Exploration Tasks». Die subjektiv berichteten Effekte nach sechs Monaten waren höhere Teamkreativität, schnellere Problemlösung, weniger Konflikte und eine messbare Steigerung der Lernbereitschaft. In unseren Leadership-Programmen integrieren wir Neugierdiagnostik. Dabei beobachten wir eine Steigerung des innovativen Denkens und grössere psychologische Sicherheit.

Wie hängt Hirngesundheit mit Neugier zusammen?
Ein gesundes Gehirn ist flexibel, aufmerksam und lernbereit. Neugier wirkt hier wie ein Motor: Sie treibt uns zum lebenslangen Lernen an, aktiviert Netzwerke, die geistige Vitalität erhalten, und wirkt kognitivem Rückgang entgegen. Gerade für ältere Mitarbeitende ist Neugier ein Booster für die Neuroplastizität und damit auch für berufliche Leistungsfähigkeit.
Welche Bedeutung hat Neugier im Zusammenspiel mit künstlicher Intelligenz (KI)?
Einerseits hilft uns Neugier, uns – wo von Gewinn – auf neue KI-Tools einzulassen. Andererseits wird unsere menschliche Neugier umso wertvoller, je mehr KI wir nutzen. Weil sie Fähigkeiten fördert wie echte Überraschungen, Perspektivwechsel und Sinn, die Maschinen nicht ersetzen können. Zudem stärkt Neugier die Metakognition, die Problemlösefähigkeit und das kritische Denken. Diese Fähigkeiten sollten wir uns unbedingt erhalten! Und last, but not least, verlangt KI von uns nicht mehr Wissen, sondern bessere Fragen.
Wenn Sie einen Wunsch an die HR-Community hätten – welcher wäre es?
Darf ich drei Wünsche formulieren (lacht)? Schaffen Sie Räume, in denen Fragen wichtiger sind als perfekte Antworten. Begegnen Sie Neuem zunächst mit Interesse, nicht mit dem Urteil, ob es gut oder schlecht ist. Und betrachten Sie Neugier nicht länger als «nice to have», sondern als Basis für Zukunftsfähigkeit und nicht zuletzt für viel Freude bei und an der Arbeit!
Das 29. Berner Wirtschafts- und HR-Forum findet am Montag, 26. Januar 2026, im Kursaal Bern statt. «HR Today»-Member können sich hier einen persönlichen Anmeldecode bestellen.