Reise durch das U

So gelingt Veränderung wirklich

Vom Kopf ins Herz ins Sein: Führungskompetenz ist Change-Kompetenz. Zu oft scheitert tiefergehende Transformation. Mit diesen 9 Schritten und der Eleganz des «Us» klappt es.

Der Jahreswechsel und die Wintersonnenwende erinnern uns an die zentralste Konstante unseres Lebens: die kontinuierliche Veränderung. Während wir uns vielleicht danach sehnen in der Hoffnung, dass dadurch alles besser wird, streben unser Körper und unser Denken nach Routine. 

Der israelisch-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahnemann beschreibt in seinem Buch «Schnelles Denken, langsames Denken», dass der Grossteil unserer Entscheide auf Automatismen beruht, während unser Körper jeden Morgen beim halbautomatisierten Anziehen der Kleider uns daran erinnert, dass Wiederholung effizient ist. Routine entlastet unseren Denkapparat, Abweichung fordert ein Neulernen und Umdenken, was spannend, zuweilen auch heraus- und überfordernd ist.

Ein proaktiver, selbstgesteuerter Umgang mit Veränderungen ist, so der US-Ökonom und Aktionsforscher Otto Scharmer, Dozent am Massachusetts Institute of Technology, eine zentrale Fähigkeit – für Führungskräfte ebenso wie für uns als Menschen. 

Zitat von Otto Scharmer: «Die Fähigkeit, nicht auf Basis von Erfahrung aus der Vergangenheit zu reagieren, sondern sich an einer sich abzeichnenden Zukunft zu orientieren, ist heute wahrscheinlich die wichtigste Führungskompetenz überhaupt.»


Er untersuchte zeitlebens, wie Veränderung nachhaltiger wird, und fasste seine Erkenntnisse erstmals im Jahr 2000 als «Theorie U» in seinem Buch «Presencing» zusammen. Presencing steht dabei fürs komplette Präsentsein, das Vergegenwärtigen, entstanden aus «presence» und der «-ing»-Verbform, die verdeutlicht, das etwas genau in diesem Moment stattfindet. 

Scharmer wurde bei seiner Forschung stark durch seine eigene Kindheit beeinflusst: Der sonntägliche Spaziergang über die Felder und der Hinweis seines Vaters, dass nicht die Oberfläche, sondern die Bodenstruktur über die Ernte entscheidet, führten zur Suche nach Veränderungstiefe. Das Abbrennen seines Elternhauses und der Hinweis seines Grossvaters, dass jetzt etwas noch Passenderes entstehen könne, zeigen sich in Scharmers Grundhaltung, dass Loslassen und Verlust schmerzvoll sein können, dies manchmal aber der erforderliche Schritt ist, damit  Neues entstehen kann.

Dass Scharmers Veränderungstheorie nur zögerlich den Weg in Unternehmen und Change-Vorhaben findet, mag an der schwer zugänglichen Sprache – mit «Presencing» als nur einem Beispiel – sowie dem scheinbar längeren Weg zum Veränderungsziel liegen. Man springt von der Herausforderung nicht direkt in die Aktion, sondern geht zunächst runter – vom Kopf ins Herz und dann ins Sein. 

Für Hardcore-Manager etwas gar esoterisch, wobei die Theorie U gerade bei dieser Zielgruppe Begeisterung auslösen kann, wenn sie erkennen, dass dieser scheinbare Umweg rascher zu nachhaltiger Veränderung führen kann.


Zwischentitel: Der Weg durch das U
Die Grafik zeigt alle Schritte, die im Artikel besprochen werden.

Folgende Schritte sind gemäss Scharmer Wegweiser für eine nachhaltige Veränderung und um den Weg raus aus dem Kopf runter ins Herz und ins Sein zu finden:
 

Zwischentitel: 1. Downloading


Downloading: Den Kopf leeren, indem alle Fakten und Überlegungen zur möglichen Veränderung ausgesprochen werden. Im Sinn einer «Mise en place» notiere ich mir als Team oder Individuum die Gründe für sowie die Vor- und Nachteile der Veränderung und mache mir dadurch die Ausgangssituation sichtbar.


Zwischentitel: 2. Sehen

 

Mit frischem Blick: Den Geist öffnen, mit frischem Blick auf die Situation schauen, ein zu rasches Urteilen verhindern sowie einen Perspektivwechsel machen, um weitere Sichtweisen einzubeziehen. Ich versetze mich in die Sichtweise der anderen, frage mich, wie sie die Situation erleben, bleibe dabei neutral beobachtend, um nicht sogleich ins Beurteilen oder Verurteilen zu fallen. (im Original: Seeing with fresh eyes)


Zwischentitel: 3. Fühlen


Aus allen Perspektiven wahrnehmen: Ausatmen und das Herz öffen. Die eigenen Gefühle wahrnehmen aber sich ebenso in die Gefühlspositionen der von der Veränderung Betroffenen hineinversetzen ohne dabei verächtlich-zynisch zu sein. Zynismus bezieht sich auf den Mechanismus, anderen (wie auch sich selbst) vorzuwerfen, nicht sogleich Feuer und Flamme für die Veränderung zu sein und dadurch eine ablehnend spöttisch-zynische Haltung einzunehmen. (im Original: Sensing from the field)


Zwischentitel: 4. Loslassen


Loslassen: Sich öffnen, um Gedanken, Vorstellungen und Wünsche zu prüfen und bei Bedarf loszulassen. Der dabei vielleicht entstehenden Verlustangst eine Pause geben als Vorbereitung auf das nachfolgende Sein. Ich prüfe, was ich an Zielbildern, Vorstellungen und Annahmen loslassen kann, muss oder soll, um mich wirklich auf die Veränderung einlassen zu können. (im Original: Letting go)


Zwischentitel: 5. Präsentsein


Mit der Quelle verbinden: Ganz präsent sein, sich im stillen inneren Überfluss wahrnehmen, sich seiner Fähigkeiten und Wünsche bewusst werden und sich dadurch mit den Möglichkeiten und dem Potenzial der Zukunft verbinden. Ich erinnere mich an meine Fähigkeiten und Kompetenzen, an meine Lebensabsichten, an frühere Erfolgsmomente, um in diese einzutauchen und sie als Potenzial für etwas Neues zu erleben. (im Original: Presencing: connecting to the source)


Zwischentitel: 6. Kommen lassen


Kommen lassen: Sich für Gedanken, Ideen, mögliche Antworten öffnen, ohne dass diese beurteilt oder geordnet werden, einfach empfangen und entstehen lassen. Ich beobachte absichtsfrei-neugierig, welche Ideen und Möglichkeiten zum Umgang mit der Veränderung entstehen und notiere alles, was mir in den Sinn kommt. (im Original: letting come)


Zwischentitel: 7. Konkretisieren


Konkretisieren: Mit dem Herzen achtsam jene Gedanken und Impulse auswählen, die mich am meisten ansprechen, einen Startpunkt schaffen, woraus alles andere entstehen kann. Ich wähle intuitiv jene Ideen und Gedanken zum Umgang mit der Veränderung aus, die am meisten ansprechen, um diese weiter zu konkretisieren. (im Original: Crystallizing vision and intention)


Zwischentitel: 8. Testen


Testen: Unter Einbezug des Kopfs handlungsorientiert prüfen, wo die ausgewählten Ideen und Impulse risikofrei ausprobiert werden können, damit Korrekturen und Anpassungen umgehend vorgenommen werden können. Ich prüfe, wie und wo ich die konkretisierten Ideen vorstellen und ausprobieren kann, um rasch Rückmeldung zu erhalten und nachbessern zu können. (im Original: Prototyping the new by linking head, heart and hand)


Zwischentitel: 9. Aktion


Aktion: In die Aktion gehen, die Erkenntnisse in den Alltag integrieren und dadurch die Veränderung zur neuen Realität machen. Ich setze das Ausprobierte um und erschaffe dadurch eine neue Realität. (im Original: Performing by operating from the whole)

Hinter der Einfachheit dieser neun Veränderungsschritte verstecken sich weitere Feinheiten, weshalb ich Scharmers Buch «Presencing» als Weihnachtslektüre empfehle. Alternativ: Machen Sie sich selbst auf die Reise durch das U, um Scharmers Theorie zu erleben.


Porträtfoto von Pascal Romann vor gelbem Hintergrund, links im Bild in Schwarz-Weiss mit Lederjacke abgebildet. Rechts daneben ein Text mit Informationen über seine beruflichen Rollen: Er ist Organisationsentwickler, Führungscoach, Teilzeit-Dozent an der ETH sowie Kommunikations- und Auftrittstrainer. Seine Leidenschaft ist es, Teams und Organisationen zu befähigen, bestmöglich zusammenzuarbeiten. Unten rechts steht das Logo von HR Today.

Selbst den Weg durchs U gehen 


Welche Dinge möchte ich im Jahr 2025 lassen und was an Neuem möchte ich in 2026 in Angriff nehmen? Wenn Sie diese Fragen umtreiben, ist es Zeit für Ihren Weg durchs U. Im Sinn eines Journaling nehmen Sie sich 60 Minuten Zeit und schreiben sich Schritt um Schritt durchs U. 

Zur Ruhe kommen: Nehmen Sie sich 10 Minuten Zeit, um auf Ihre Weise bei sich anzukommen. Das kann durch bewusstes Atmen, den Blick zum Fenster hinaus, eine Tasse Tee, ein Musikstück oder auch körperliche Bewegung sein. Alles, was Ihnen hilft, Ihre Wahrnehmung auf sich selbst zu konzentrieren, ist passend. 

Durchs U reisen: Nehmen Sie sich pro Schritt 5 Minuten Zeit und notieren Sie Ihre Gedanken zu den jeweiligen Fragen auf Papier ohne gross zu überlegen. Der Verzicht auf eine Tastatur macht Ihr Schreiben langsamer, dadurch bewusster – und den Reflexionsprozess nachhaltiger. Fällt Ihnen nichts mehr ein, bleiben Sie in der Präsenz und halten die Leere aus.

  1. Downloading: Was waren Ihre zentralen Momente in 2025? Was hat Sie geprägt? Was ist Ihnen noch besonders präsent?
  2. Sehen: Wie hat Sie Ihr Umfeld erlebt? Was sehen sie als Ihre Erfolge, was als Ihre Tiefpunkte?
  3. Fühlen: Wie fühlen Sie sich jetzt? Wie fühlten Sie sich im Jahresverlauf? Wie fühlt und fühlte sich Ihr Umfeld an?
  4. Loslassen: Was wollen Sie abschliessen? Was müssen Sie zurücklassen? Was verabschiedet sich von Ihnen?
  5. Präsentsein: Wann sind Sie in Ihrer Kraft, in Ihrer Fülle? Was möchte durch Sie zum Ausdruck kommen? Was macht Sie aus? Was ist Ihnen wichtig?
  6. Kommen lassen: Was an Neuem kann 2026 entstehen? Welche Wünsche und Bedürfnisse erhalten Raum? Welche Ihrer Aspekte finden Platz?
  7. Konkretisieren: Was davon spricht Sie besonders an? Für was entsteht am meisten Energie? Was wünschen sich andere für Sie?
  8. Testen: Wie und wo können Sie einen ersten Schritt machen, um risikofrei auszuprobieren, dazuzulernen und zu prüfen, was entstehen kann? Welche Unterstützung kann Ihnen helfen? Wen oder was brauchen Sie dazu?
  9. Aktion: Was soll Teil von 2026 werden? Was passiert dadurch in Ihrem Leben? Wer werden Sie dadurch?

Ihren Reflexionsprozess wertschätzen: Schauen Sie nach einer Pause erneut auf Ihre Notizen, beobachten Sie, was bei jedem Schritt passiert ist und was davon Bedeutung hat. Überprüfen Sie, ob Sie eine neue Klarheit gewonnen haben oder ob bestätigt wurde, was Ihnen bereits klar war. Bedanken Sie sich bei sich selbst dafür, sich dieses Zeitfenster geschenkt zu haben und überlegen Sie, wann es eine erneute U-Reise brauchen könnte.

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Porträt von Pascal Romann, im Anzug, der direkt in die Kamera blickt. Er trägt ein dunkelblau kariertes Sakko über Hemd und Pullover, hat kurze, helle Gesichtsbehaarung und einen rasierten Kopf. Der Hintergrund ist unscharf dunkel gehalten.

Pascal Romann ist Organisationsentwickler, Coach und nebenberuflicher ETH-Dozent zu Leadership-Themen. Daneben leitet er Workshops in den Bereichen Kommunikation und Konfliktmanagement.

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