HR Today Nr. 1&2/2021: Praxis – Weiterbildung für Ü50 I

Altersbilder über Bord

Firmen, die ältere Mitarbeitende weiterbilden, sind produktiver als solche, die es nicht tun. Dennoch halten viele an überkommenen Verhaltensweisen fest. Ein Plädoyer für ein Umdenken in der Personalentwicklung.

Wir alle kennen langjährige, treue Mitarbeitende, die eine Art Ruhepol im Team bilden und als Faktotum gelten. Sie sitzen täglich zur selben Stunde und meist früher als alle andern am Arbeitsplatz, sind bestens organisiert und pflegen eine vorbildliche Schreibtischkultur. Ihre Aufgaben erfüllen sie geflissentlich und mit unauffälliger Routine. Sie sind Mitte 50 oder um die 60, interessiert und bringen sich ein. Meist bleiben diese Teammitglieder bei der Förderung und Weiterbildung jedoch unberücksichtigt. Jüngere, die dagegen agil und selbstbewusst auftreten, werden in eine Weiterbildung geschickt, die einen nächsten Karriereschritt einläutet oder sie auf einen kommenden Technologiewandel vorbereitet. Just dieser Technologiewandel katapultiert ältere Teammitglieder dann aus dem Unternehmen, wenn HR nicht vorher zum Schluss gekommen ist, dass deren Kosten und Leistungen ins Ungleichgewicht geraten sind.

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Nicht selten halten ältere Mitarbeitende ihre Leistung und ihr einst erworbenes Wissen für ausreichend, obschon sie über Jahre hinweg an sich und ihrer Arbeitshaltung wenig verändert haben. Sie spielen auf Zeit und verkennen, dass sie den Anschluss längst verloren haben: aufgrund des Technologiewandels oder neuer Führungs-, Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse, die andere Kompetenzen als jene verlangen, die damals gefragt waren, als sie vor 20 oder 30 Jahren nach dem Studium oder der Lehre in den Arbeitsmarkt eintraten.

Unplanbarkeit nimmt zu

Das Arbeitsmarktumfeld sei in den letzten Jahren deutlich anspruchsvoller geworden, schrieb das Seco schon 2018 in einem Bericht zuhanden einer nationalen Konferenz über Ältere auf dem Arbeitsmarkt. Daran hat sich nichts geändert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich die Situation nicht zuletzt infolge der Corona-Pandemie weiter verschärft. Die Unsicherheit wächst. Das Unplanbare beherrscht mehr und mehr unseren Alltag und erfordert Flexibilität.

Jüngere Generationen scheinen mit diesen Herausforderungen besser umzugehen, weil sie anders sozialisiert wurden: Wer heute eine Grundausbildung abschliesst, weiss, dass damit allenfalls eine Grundlage gelegt ist für das, was wir lebenslanges Lernen nennen – die fortlaufende Wissensaneignung über non-formale, oft auch selbstgesteuerte Weiterbildung. Selbst Hochschuldidaktiker sprechen inzwischen davon, dass ein Bachelor- oder Masterabschluss eher als Zeugnis für die Lern- und Weiterbildungsfähigkeit und nicht als Wissensnachweis eines Arbeitnehmenden gelten sollte. Lebenslanges Lernen ist so zum Paradigma der Gegenwart geworden, wie auch die EU im Jahr 2000 in einem Memorandum dazu festhielt: Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit und um die Verbesserung der Beschäftigungs- und Anpassungsfähigkeit von Arbeitskräften. Dieser Wettbewerb wird zwischen Unternehmen und Volkswirtschaften wie auch Individuen ausgetragen. Sich weiterzubilden ist deshalb zu einem moralischen Imperativ geworden. Wer es unterlässt, schadet der Wirtschaft, aber auch sich selbst. Was wiederum heisst: Wer der ständigen Selbstoptimierung nicht nachkommt und deswegen aus der Spur gerät, ist selber schuld.

Doppeltes Pech also für unsere eingangs beschriebenen grauen Mäuse, denen man keine Weiterbildung zutraut und eine Investition in ihre Potenziale als zum Fenster hinausgeworfenes Geld betrachtet. Vielleicht sind diese Mitarbeitenden auch nur das Opfer tradierter Altersbilder geworden: Die These hält sich hartnäckig, wonach die menschliche Leis­tungsfähigkeit zwischen dem zweiten und dem dritten Lebensjahrzehnt ihren Höchststand erreicht und danach unumkehrbar abnimmt. Sie ist jedoch längst widerlegt. Zu altern bedeutet nicht die gleichzeitig voranschreitende Abnahme körperlicher und geistiger Fähigkeiten. In der Altersforschung ist nachgewiesen, dass zwar die Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns mit zunehmendem Alter abnehmen kann (aber nicht muss), die erfahrungsgebundene Intelligenz, die Allgemeinwissen, Erfahrungswissen, Wortschatz, Sprachverständnis und Ähnliches umfasst, dagegen nicht nur erhalten bleibt, sondern sogar zunimmt.

Ihre Lernfähigkeiten unterschätzen ältere Personen oft auch selbst. «Viele Ältere zweifeln, dass sie ebenso gut lernen wie Jüngere», sagt Katrin Piazza. Sie ist Lerncoach und zählt nicht wenige über 50-Jährige zu ihren Klientinnen und Klienten. Ihnen gemeinsam ist, dass sie an ihren Lernstrategien arbeiten müssen. Diese sind oft veraltet. Aber damit hat es sich auch schon.

Was viele Personen verbindet, die einen Lerncoach aufsuchen, ist der Wille, sich nicht frühzeitig zur Ruhe zu setzen, sondern ihrer Karriere einen neuen Impuls zu verleihen – weit über die 50-Jahr-Schwelle hinaus. Unter diesen Karrierewilligen sind überdies Frauen, die nach einer Mutterschaftspause wieder ins Arbeitsleben einzusteigen beabsichtigen oder sogar noch ein paar Karrierestufen erklimmen wollen, nachdem der Nachwuchs flügge geworden ist.

Die Voraussetzung für eine späte Karriere hängt von der Wahl der Weiterbildung ab. Bei älteren Arbeitnehmenden fällt zudem stärker als bei jüngeren ins Gewicht, was sie auf ihrem bisherigen Lebensweg angesammelt haben, was sie prägt und vor allem: Womit sie auf dem Arbeitsmarkt den grössten Effekt erzielen und worauf sie Lust haben. Für ältere und erfahrenere Personen gilt ausserdem besonders: Sie lernen nicht auf Vorrat, sondern nur, worin sie einen Sinn erkennen.

Die richtige Weiterbildung zu finden, ist für Unternehmen wie für betroffene Individuen zentral. Auch hier sollte man mit tradierten Altersbildern und überkommenen Strukturen aufräumen. Eine Aus- und Weiterbildungsberatung ist somit auch mit zunehmendem Alter wichtig. Entsprechend sollte älteren Menschen der Zugang dazu offenstehen. Erste Schritte sind dazu bereits gemacht. Viele Arbeitnehmende wissen allerdings nicht, welche Möglichkeiten ihnen auch in fortgeschrittenem Alter in finanzieller Hinsicht bei Weiterbildungen offenstehen. So ist etwa die staatlich garantierte 50-prozentige Kostenübernahme für Ausbildungen mit höherem Fachausweis eine sinnvolle Unterstützung, zumal Personen über 50 nicht selten finanziell gebunden sind und Weiterbildungen deshalb nicht aus eigenen Mitteln bezahlen können. Auch aufseiten von Unternehmen ist noch viel zu tun: Karriereplanung sollte nicht mit Mitte 40 aufhören. Das müssten sich viele HR-Verantwortliche, die ältere Mitarbeitende lieber ersetzen als weiterbilden, ins Aufgabenheft schreiben.

Doch lohnen sich Weiterbildungen für ältere Arbeitnehmende überhaupt? Die OECD meint ja. So rechnet sie in ihrem jüngsten Bericht über altersgemischte Arbeiterschaften vor, dass ein Unternehmen um 1,1 Prozent produktiver ist als dessen Konkurrenzunternehmen, wenn zehn Prozent seiner Belegschaft 50 Jahre alt oder älter sind. Auch für Volkswirtschaften zahle sich die Förderung älterer Mitarbeitender aus, schreibt die OECD, wobei sie gar keine Alternative dazu ausmacht: Bis ins Jahr 2050 werde sich der Anteil der Generation 50 plus in den Industriestaaten von 37 Prozent auf 45 Prozent erhöhen. Ohne die Alten wird es also nicht gehen. Aber halt: Auch diese Formulierung verrät überkommenes Denken. Richtigerweise sollte es heissen: Dank den Älteren wird es gehen. Werfen wir also überkommene Altersbilder über Bord und überlegen uns genauer, wer im Zuge der nächsten Weiterbildungswelle gefördert werden soll.

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Ronald Schenkel ist Redaktor der Fachzeitschrift für Weiterbildung «Education Permanente» und schreibt im Auftrag des SVEB über Weiterbildung.

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